Das fiel mir jetzt noch nicht auf, ist sicher von den restllchen Ärgernissen verdrängt worden.
Was lest ihr gerade? V2.0
Re: Was lest ihr gerade? V2.0
Wenn Slayer wieder auf Tour gehen würden, würde Corona seine Ausbreitung canceln.
Re: Was lest ihr gerade? V2.0
Thunderforce hat geschrieben: ↑01.11.2022 10:01 Angefangen hab ich es auch mal, fands aber auch Scheiße. Vermutlich aus den gleichen Gründen, hab es komplett verdrängt.
Für mich durchaus nachvollziehbar.
Um mal ein wenig das Problem für Uneingeweihte zu erläutern:
Stellt euch vor Tolkien würde noch leben und hätte das Angebot bekommen die Bohlen-Biographie zu schreiben und hätte zugesagt.
Dann habt ihr ungefähr eine Ahnung davon was Menschen, die Hyperion/Endymion gelesen haben (diese Werke haben für das SciFi-Genre eine mit Dune vergleichbare Bedeutung) beim lesen von Flashback empfinden.
Mich interessiert leider ein wenig die Auflösung der Whodunnit-Story und wenn es nicht von Dan Simmons wäre, würde ich es sicher weiter lesen, aber so........
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Re: Was lest ihr gerade? V2.0
Okay, die Ambivalenz hatte ich vorher noch nicht bemerkt.Kaleun Thomsen hat geschrieben: ↑01.11.2022 07:37wolverin hat geschrieben: ↑31.10.2022 23:00 Dann Simmons -Flashback
Kennt das einer von euch? Ich liebe Dan Simmons ja eigentlich, gerade die Hyperion-Gesänge und Endymion gehören zu meinen absoluten Liebllingswerken. Und auch Song Of Kali, Illium, Olympus und das Schlangenhaupt, war sehr gut bis spitze.
Aber Flashback ist schon sehr schwer zu verdauen, es liest sicher stellenweise wie die zwischen 2 Buchdeckeln gegossene Paranoia eines Angehörigen der White Trash Zunft.
-Der wirtschaftliche und politische Niedergang der USA durch die Politik Barack Obamas? Ein islamisches Kalifat, dass zusammen mit einer japanischen Oberkaste (!) das beherrscht, was von den einst so stolzen USA blieb? Alles da!
Ach ja und Wladimir Putin regiert im Jahr 2032 immer noch. Ist vermutlich das realistischste Szenario in diesem Buch.
Ich weiss noch nicht, ob ich es zu Ende lesen werde.
Dan Simmons ist ziemlich ambivalent. "Terror" war grandios, ebenso "Elmhaven". "Der Berg" aber war kompletter Abschiss und selten hat mich ein Buch so wütend gemacht ( davor nur das unsägliche Pamphlet "Der Schwarm" ).
Wie gesagt, die von mir genannten Bücher waren alle mindestens sehr gut und Hyperion ist halt ein Meisterwerk.
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Re: Was lest ihr gerade? V2.0
GIULIA CAMINITO - Das Wasser des Sees ist niemals süß
Ein vor allem in seinem Ursprungsland Italien sehr erfolgreicher, preisgekrönter Roman mit dem Anspruch, echte Literatur zu sein. Die Rezensionen waren auch in D. sehr positiv. Ich stelle mal den Verlagstext voran, der i. ü. die zum Roman publizierte, begeisterte Kritik in sich trägt.
"Eine Frage der Klasse: Radikal unversöhnlich erzählt Giulia Caminito von nicht eingelösten Aufstiegsversprechen und den enttäuschten Träumen einer ganzen Generation junger Italiener – ein berührender, zorniger, großer Anti-Bildungsroman.
Am Grund des Sees liegt eine versunkene Weihnachtskrippe, sein Wasser schimmert trüb, schmeckt nach Sonnencreme und Benzin. Hier, am Lago di Bracciano, bezieht Gaia mit ihrer Familie eine Sozialwohnung: der Vater, der seit einem Arbeitsunfall im Rollstuhl sitzt, der ältere anarchistische Bruder Mariano, die kleinen Zwillinge – und die Mutter Antonia, die so zupackend wie rücksichtslos alles zusammenhält.
Ihre Tochter, blass, sommersprossig, dürr, soll nicht so enden wie sie, Bildung soll der Ausweg für Gaia sein. Doch die erkennt früh, dass Talent und zwanghafter Fleiß nicht ausreichen, um mitzuhalten – wenn man kein liebes Mädchen sein will, den filzstiftgrünen Pullover des Bruders aufträgt und sich kein Handy leisten kann. Konfrontiert mit Herabsetzungen, Leistungsdruck und Orientierungslosigkeit verwandelt sich Gaias stumme Verletzlichkeit in maßlose Wut, die sie zunehmend Grenzen überschreiten lässt.
Giulia Caminito hat ein sanftes, raues, wundersam reiches Buch geschrieben: über eine Jugend in der Provinz, lächerliche Lieben, grundstürzende Dramen und eine junge Frau, die ihrer Herkunft nicht entkommt. Ein Roman mit einer unverwechselbaren Erzählstimme und Bildern, die haften bleiben wie ungeliebte Spitznamen."
Ich würde es so beschreiben.
Die Ich-Erzählerin Gaia beschreibt Ihr Leben über etwa 15 Jahre von der frühen Pubertät bis eine Weile nach Abschluss ihres Studiums. Sie hat Philosophie studiert, als Akt der Unterwerfung (Studium) und zugleich des Widerstands (Philosophie) gegen ihre extrem dominante Mutter. Eigenen Antrieb dazu hatte sie nicht. Ihre Mutter ist dann auch die einzige Figur neben Gaia, die ein echtes Profil hat. Der Rest (Brüder, Vater, Freunde) ist in Wahrheit nur Kulisse der Extremegoistin Gaia. Zwei Ihrer Freundinnen sterben unterwegs, die eine begeht Suizid, die andere stirbt an Krebs. Während sie zu Lebzeiten auch bloß Begleitfiguren waren, werden sie von Gaia nach dem Tod romantifiziert. Natürlich nur eine Weile, dann geht es wieder um sie, die Erzählerin.
Über diese 15 Jahre zeigt Gaia keine Lernkurve, keine eigene Liebe für irgendwen oder irgendwas außer sich selbst. Die sie sich aber auch oft genug für wertlos, uninteressant und außenseitig hält.
Prägnant sind die häufigen Aufzählungen im Roman. Die eine Art Aufzählungen findet statt, um Sachen schnell hinter sich zu bringen. Die andere bringt alle Dinge, die die Erzählerin gern hätte: Lippenstift, Handy, Strümpfe, Puppe, Handy, Fernseher, Schuhe, Handy ... alles rein materiell. Denn die Familie ist arm, und wenn man arm ist, ist man auch geistig arm, verstockt und ohne Gefühl fürs soziale Ganze. Jedenfalls hier, bis auf den großen Bruder, der dann aber folgerichtig kaum noch auftaucht. Und wenn man nicht so arm ist, hat man eine Vespa, Pullover von Ralph Lauren sowie ein paar Luxusproblemchen.
Die "Aufstiegsversprechen" hat sie, Gaia, nicht eingelöst. Teils aus Trotz ihrer Mutter gegenüber, großteils deswegen, weil sie überhaupt nicht verstanden hat, worum es dabei geht und weil sie nichts mit Liebe tut. Am ehesten kommt findet man Liebe in den Aufzählungen von Handys und Lippenstiften. Das kommt mir nicht wie ein sozialer Systemfehler vor. Gaia scheitert nicht als gesellschaftliche Oppositionelle, sondern aus familiärem Trotz und vor allem, weil sie zu Leidenschaft nicht imstande ist.
Der Roman zeigt überhaupt keine strukturellen Probleme, sondern individuelle. Wobei man natürlich sagen kann, gerade das ist das Teuflische, dass strukturelle Ungerechtigkeiten auf die individuelle Ebene fallen und deswegen als soziale Ungerechtigkeit unsichtbar werden. Aber ist das eine soziale Ungerechtigkeit, wenn man als Kind einer armen Familie studieren kann, dabei aber mit voller Absicht etwas wählt, was materiell nicht hilft und für das man auch nix empfindet, außer die Mutter abzustrafen, indem man deren Idee von Bildung karikiert? Die interessante Figur für mich ist die Mutter, eine Art "Feldwebelin der Armut". Die Welt der Erzählerin ist eng und bleibt es auch. Ist es sehr kartoffel, wenn mich nervt, dass Gaia in all den Jahren niemals ernsthaft überlegt, für Geld zu arbeiten?
Ich hab noch nicht verstanden, ob das alles ein erzähltes Einzelschicksal ist - aber die Rezeption erklärt es ja zum gesellschaftlichen Phänomen.
Oder vielleicht ein Exempel, dann ist es ein ärgerliches, selbstgerechtes, oft ödes und dummes. Und vielleicht als Exempel gerade deswegen klug. Zumal der Roman (wie man hier sieht) eine Menge im Leser auslöst, was er im eigentlichen Inhalt gar nicht umfasst.
Aber okay, andererseits gibt es genug Werke, in denen der aus ärmsten Verhältnissen stammende Held mit Liebe, scharfem Verstand, Fleiß, sozialem Geschick undsoweiterundsoweiter raketenmäßig die Welt erhellt.
Ob ich es gern gelesen habe? Ja, aber mit fast immer negativen Gefühlen. Mit dem Widerspruch muss ich auch erstmal zurecht kommen.
Vielleicht sind auch einfach meine Erwartungen an Literatur aus bella Italia unerfüllt geblieben. Typisch "Italia" ist hier nur Familie, und die als Mühlstein, der einen so festhält, dass man selbst für nix mehr was kann.
Ein vor allem in seinem Ursprungsland Italien sehr erfolgreicher, preisgekrönter Roman mit dem Anspruch, echte Literatur zu sein. Die Rezensionen waren auch in D. sehr positiv. Ich stelle mal den Verlagstext voran, der i. ü. die zum Roman publizierte, begeisterte Kritik in sich trägt.
"Eine Frage der Klasse: Radikal unversöhnlich erzählt Giulia Caminito von nicht eingelösten Aufstiegsversprechen und den enttäuschten Träumen einer ganzen Generation junger Italiener – ein berührender, zorniger, großer Anti-Bildungsroman.
Am Grund des Sees liegt eine versunkene Weihnachtskrippe, sein Wasser schimmert trüb, schmeckt nach Sonnencreme und Benzin. Hier, am Lago di Bracciano, bezieht Gaia mit ihrer Familie eine Sozialwohnung: der Vater, der seit einem Arbeitsunfall im Rollstuhl sitzt, der ältere anarchistische Bruder Mariano, die kleinen Zwillinge – und die Mutter Antonia, die so zupackend wie rücksichtslos alles zusammenhält.
Ihre Tochter, blass, sommersprossig, dürr, soll nicht so enden wie sie, Bildung soll der Ausweg für Gaia sein. Doch die erkennt früh, dass Talent und zwanghafter Fleiß nicht ausreichen, um mitzuhalten – wenn man kein liebes Mädchen sein will, den filzstiftgrünen Pullover des Bruders aufträgt und sich kein Handy leisten kann. Konfrontiert mit Herabsetzungen, Leistungsdruck und Orientierungslosigkeit verwandelt sich Gaias stumme Verletzlichkeit in maßlose Wut, die sie zunehmend Grenzen überschreiten lässt.
Giulia Caminito hat ein sanftes, raues, wundersam reiches Buch geschrieben: über eine Jugend in der Provinz, lächerliche Lieben, grundstürzende Dramen und eine junge Frau, die ihrer Herkunft nicht entkommt. Ein Roman mit einer unverwechselbaren Erzählstimme und Bildern, die haften bleiben wie ungeliebte Spitznamen."
Ich würde es so beschreiben.
Die Ich-Erzählerin Gaia beschreibt Ihr Leben über etwa 15 Jahre von der frühen Pubertät bis eine Weile nach Abschluss ihres Studiums. Sie hat Philosophie studiert, als Akt der Unterwerfung (Studium) und zugleich des Widerstands (Philosophie) gegen ihre extrem dominante Mutter. Eigenen Antrieb dazu hatte sie nicht. Ihre Mutter ist dann auch die einzige Figur neben Gaia, die ein echtes Profil hat. Der Rest (Brüder, Vater, Freunde) ist in Wahrheit nur Kulisse der Extremegoistin Gaia. Zwei Ihrer Freundinnen sterben unterwegs, die eine begeht Suizid, die andere stirbt an Krebs. Während sie zu Lebzeiten auch bloß Begleitfiguren waren, werden sie von Gaia nach dem Tod romantifiziert. Natürlich nur eine Weile, dann geht es wieder um sie, die Erzählerin.
Über diese 15 Jahre zeigt Gaia keine Lernkurve, keine eigene Liebe für irgendwen oder irgendwas außer sich selbst. Die sie sich aber auch oft genug für wertlos, uninteressant und außenseitig hält.
Prägnant sind die häufigen Aufzählungen im Roman. Die eine Art Aufzählungen findet statt, um Sachen schnell hinter sich zu bringen. Die andere bringt alle Dinge, die die Erzählerin gern hätte: Lippenstift, Handy, Strümpfe, Puppe, Handy, Fernseher, Schuhe, Handy ... alles rein materiell. Denn die Familie ist arm, und wenn man arm ist, ist man auch geistig arm, verstockt und ohne Gefühl fürs soziale Ganze. Jedenfalls hier, bis auf den großen Bruder, der dann aber folgerichtig kaum noch auftaucht. Und wenn man nicht so arm ist, hat man eine Vespa, Pullover von Ralph Lauren sowie ein paar Luxusproblemchen.
Die "Aufstiegsversprechen" hat sie, Gaia, nicht eingelöst. Teils aus Trotz ihrer Mutter gegenüber, großteils deswegen, weil sie überhaupt nicht verstanden hat, worum es dabei geht und weil sie nichts mit Liebe tut. Am ehesten kommt findet man Liebe in den Aufzählungen von Handys und Lippenstiften. Das kommt mir nicht wie ein sozialer Systemfehler vor. Gaia scheitert nicht als gesellschaftliche Oppositionelle, sondern aus familiärem Trotz und vor allem, weil sie zu Leidenschaft nicht imstande ist.
Der Roman zeigt überhaupt keine strukturellen Probleme, sondern individuelle. Wobei man natürlich sagen kann, gerade das ist das Teuflische, dass strukturelle Ungerechtigkeiten auf die individuelle Ebene fallen und deswegen als soziale Ungerechtigkeit unsichtbar werden. Aber ist das eine soziale Ungerechtigkeit, wenn man als Kind einer armen Familie studieren kann, dabei aber mit voller Absicht etwas wählt, was materiell nicht hilft und für das man auch nix empfindet, außer die Mutter abzustrafen, indem man deren Idee von Bildung karikiert? Die interessante Figur für mich ist die Mutter, eine Art "Feldwebelin der Armut". Die Welt der Erzählerin ist eng und bleibt es auch. Ist es sehr kartoffel, wenn mich nervt, dass Gaia in all den Jahren niemals ernsthaft überlegt, für Geld zu arbeiten?
Ich hab noch nicht verstanden, ob das alles ein erzähltes Einzelschicksal ist - aber die Rezeption erklärt es ja zum gesellschaftlichen Phänomen.
Oder vielleicht ein Exempel, dann ist es ein ärgerliches, selbstgerechtes, oft ödes und dummes. Und vielleicht als Exempel gerade deswegen klug. Zumal der Roman (wie man hier sieht) eine Menge im Leser auslöst, was er im eigentlichen Inhalt gar nicht umfasst.
Aber okay, andererseits gibt es genug Werke, in denen der aus ärmsten Verhältnissen stammende Held mit Liebe, scharfem Verstand, Fleiß, sozialem Geschick undsoweiterundsoweiter raketenmäßig die Welt erhellt.
Ob ich es gern gelesen habe? Ja, aber mit fast immer negativen Gefühlen. Mit dem Widerspruch muss ich auch erstmal zurecht kommen.
Vielleicht sind auch einfach meine Erwartungen an Literatur aus bella Italia unerfüllt geblieben. Typisch "Italia" ist hier nur Familie, und die als Mühlstein, der einen so festhält, dass man selbst für nix mehr was kann.
In dubio contra googlio.
Re: Was lest ihr gerade? V2.0
Irgendwie muss ich bei deiner Rezeption ein bisschen an Marx und das Stiefel putzen denken. Liebe, Leidenschaft, Strukturelle Probleme und das für Geld arbeiten - bzw. die jeweilige Abwesenheit. Naiß. Das Buch landet aber definitiv mal auf meiner “Irgendwann gebraucht kaufen oder wenn möglich für umsonst abstauben”-Liste.Schnabelrock hat geschrieben: ↑04.11.2022 10:48 GIULIA CAMINITO - Das Wasser des Sees ist niemals süß
Ein vor allem in seinem Ursprungsland Italien sehr erfolgreicher, preisgekrönter Roman mit dem Anspruch, echte Literatur zu sein. Die Rezensionen waren auch in D. sehr positiv. Ich stelle mal den Verlagstext voran, der i. ü. die zum Roman publizierte, begeisterte Kritik in sich trägt.
"Eine Frage der Klasse: Radikal unversöhnlich erzählt Giulia Caminito von nicht eingelösten Aufstiegsversprechen und den enttäuschten Träumen einer ganzen Generation junger Italiener – ein berührender, zorniger, großer Anti-Bildungsroman.
Am Grund des Sees liegt eine versunkene Weihnachtskrippe, sein Wasser schimmert trüb, schmeckt nach Sonnencreme und Benzin. Hier, am Lago di Bracciano, bezieht Gaia mit ihrer Familie eine Sozialwohnung: der Vater, der seit einem Arbeitsunfall im Rollstuhl sitzt, der ältere anarchistische Bruder Mariano, die kleinen Zwillinge – und die Mutter Antonia, die so zupackend wie rücksichtslos alles zusammenhält.
Ihre Tochter, blass, sommersprossig, dürr, soll nicht so enden wie sie, Bildung soll der Ausweg für Gaia sein. Doch die erkennt früh, dass Talent und zwanghafter Fleiß nicht ausreichen, um mitzuhalten – wenn man kein liebes Mädchen sein will, den filzstiftgrünen Pullover des Bruders aufträgt und sich kein Handy leisten kann. Konfrontiert mit Herabsetzungen, Leistungsdruck und Orientierungslosigkeit verwandelt sich Gaias stumme Verletzlichkeit in maßlose Wut, die sie zunehmend Grenzen überschreiten lässt.
Giulia Caminito hat ein sanftes, raues, wundersam reiches Buch geschrieben: über eine Jugend in der Provinz, lächerliche Lieben, grundstürzende Dramen und eine junge Frau, die ihrer Herkunft nicht entkommt. Ein Roman mit einer unverwechselbaren Erzählstimme und Bildern, die haften bleiben wie ungeliebte Spitznamen."
Ich würde es so beschreiben.
Die Ich-Erzählerin Gaia beschreibt Ihr Leben über etwa 15 Jahre von der frühen Pubertät bis eine Weile nach Abschluss ihres Studiums. Sie hat Philosophie studiert, als Akt der Unterwerfung (Studium) und zugleich des Widerstands (Philosophie) gegen ihre extrem dominante Mutter. Eigenen Antrieb dazu hatte sie nicht. Ihre Mutter ist dann auch die einzige Figur neben Gaia, die ein echtes Profil hat. Der Rest (Brüder, Vater, Freunde) ist in Wahrheit nur Kulisse der Extremegoistin Gaia. Zwei Ihrer Freundinnen sterben unterwegs, die eine begeht Suizid, die andere stirbt an Krebs. Während sie zu Lebzeiten auch bloß Begleitfiguren waren, werden sie von Gaia nach dem Tod romantifiziert. Natürlich nur eine Weile, dann geht es wieder um sie, die Erzählerin.
Über diese 15 Jahre zeigt Gaia keine Lernkurve, keine eigene Liebe für irgendwen oder irgendwas außer sich selbst. Die sie sich aber auch oft genug für wertlos, uninteressant und außenseitig hält.
Prägnant sind die häufigen Aufzählungen im Roman. Die eine Art Aufzählungen findet statt, um Sachen schnell hinter sich zu bringen. Die andere bringt alle Dinge, die die Erzählerin gern hätte: Lippenstift, Handy, Strümpfe, Puppe, Handy, Fernseher, Schuhe, Handy ... alles rein materiell. Denn die Familie ist arm, und wenn man arm ist, ist man auch geistig arm, verstockt und ohne Gefühl fürs soziale Ganze. Jedenfalls hier, bis auf den großen Bruder, der dann aber folgerichtig kaum noch auftaucht. Und wenn man nicht so arm ist, hat man eine Vespa, Pullover von Ralph Lauren sowie ein paar Luxusproblemchen.
Die "Aufstiegsversprechen" hat sie, Gaia, nicht eingelöst. Teils aus Trotz ihrer Mutter gegenüber, großteils deswegen, weil sie überhaupt nicht verstanden hat, worum es dabei geht und weil sie nichts mit Liebe tut. Am ehesten kommt findet man Liebe in den Aufzählungen von Handys und Lippenstiften. Das kommt mir nicht wie ein sozialer Systemfehler vor. Gaia scheitert nicht als gesellschaftliche Oppositionelle, sondern aus familiärem Trotz und vor allem, weil sie zu Leidenschaft nicht imstande ist.
Der Roman zeigt überhaupt keine strukturellen Probleme, sondern individuelle. Wobei man natürlich sagen kann, gerade das ist das Teuflische, dass strukturelle Ungerechtigkeiten auf die individuelle Ebene fallen und deswegen als soziale Ungerechtigkeit unsichtbar werden. Aber ist das eine soziale Ungerechtigkeit, wenn man als Kind einer armen Familie studieren kann, dabei aber mit voller Absicht etwas wählt, was materiell nicht hilft und für das man auch nix empfindet, außer die Mutter abzustrafen, indem man deren Idee von Bildung karikiert? Die interessante Figur für mich ist die Mutter, eine Art "Feldwebelin der Armut". Die Welt der Erzählerin ist eng und bleibt es auch. Ist es sehr kartoffel, wenn mich nervt, dass Gaia in all den Jahren niemals ernsthaft überlegt, für Geld zu arbeiten?
Ich hab noch nicht verstanden, ob das alles ein erzähltes Einzelschicksal ist - aber die Rezeption erklärt es ja zum gesellschaftlichen Phänomen.
Oder vielleicht ein Exempel, dann ist es ein ärgerliches, selbstgerechtes, oft ödes und dummes. Und vielleicht als Exempel gerade deswegen klug. Zumal der Roman (wie man hier sieht) eine Menge im Leser auslöst, was er im eigentlichen Inhalt gar nicht umfasst.
Aber okay, andererseits gibt es genug Werke, in denen der aus ärmsten Verhältnissen stammende Held mit Liebe, scharfem Verstand, Fleiß, sozialem Geschick undsoweiterundsoweiter raketenmäßig die Welt erhellt.
Ob ich es gern gelesen habe? Ja, aber mit fast immer negativen Gefühlen. Mit dem Widerspruch muss ich auch erstmal zurecht kommen.
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One night as he sat at his table head on hands he saw himself rise and go.
http://www.stupidedia.org/stupi/Hoden
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Re: Was lest ihr gerade? V2.0
Es gibt tatsächlich eine Kurzgeschichtensammlung von Neil Gaiman, die ich noch nicht kannte. Sie heisst "Trigger Warning" und fiel mir neulich in der möglicherweise beeindruckendsten Buchhandlung der Welt auf:
https://images.squarespace-cdn.com/cont ... hop-11.jpg
Unbedingter Tipp für jeden, der mal nach Maastricht kommt. Das Buch hab ich noch nicht gelesen, aber wird schon gut sein. *g*
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Re: Was lest ihr gerade? V2.0
Hat jemand einen Tip für einen (möglichst umfassenden) Lovecraft Sammelband?
Base not your joy upon the deeds of others, for what is given can be taken away.
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Re: Was lest ihr gerade? V2.0
Es gibt mehrere, am hübschesten finde ich den hier, da schleiche ich auch schon geraume Zeit drum rum. Könnte man einfach auch mal Kaufen, ist ja nicht teuer:
https://www.amazon.de/Complete-Fiction- ... 1435122968
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Re: Was lest ihr gerade? V2.0
Wir haben den hier:
https://www.amazon.de/Necronomicon-Weir ... C77&sr=8-1
Kannst Du auch gerne mal leihen, ist allerdings auf englisch.
Re: Was lest ihr gerade? V2.0
Farm der Tiere von G. Orwell.
Relativ kurze Parabel, schnell und flüssig zu lesen. Etwas hölzern in der Sprache, etwas holzhammermäßig in der Darstellung. Meine Uraltausgabe von Diogenes hat ein Nachwort über die Pressefreiheit und was Orwell da niederschreibt hat heute die gleiche Relevanz. Das Besondere ist, dass das heute von Querdenkern und Rechten angesprochen wird und noch den zusätzlichen Twist bekommen hat. Das fehlt dann vielleicht heute bei der Fabel: Es ist weiterhin eigentlich egal, ob man von Menschen oder Schweinen ausgenutzt wird, solange im Stall genug Trubel herrscht und die Tiere sich einfach untereinander streiten.
Relativ kurze Parabel, schnell und flüssig zu lesen. Etwas hölzern in der Sprache, etwas holzhammermäßig in der Darstellung. Meine Uraltausgabe von Diogenes hat ein Nachwort über die Pressefreiheit und was Orwell da niederschreibt hat heute die gleiche Relevanz. Das Besondere ist, dass das heute von Querdenkern und Rechten angesprochen wird und noch den zusätzlichen Twist bekommen hat. Das fehlt dann vielleicht heute bei der Fabel: Es ist weiterhin eigentlich egal, ob man von Menschen oder Schweinen ausgenutzt wird, solange im Stall genug Trubel herrscht und die Tiere sich einfach untereinander streiten.
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Re: Was lest ihr gerade? V2.0
Danke@Apparition und Ploppi.
Ich glaube, ich hätte es lieber auf Deutsch
Das hier scheint mir auch ganz passend zu sein:
https://www.nikol-verlag.de/gesammelte- ... eschichten
Oder direkt "All in" und das hier:
https://www.festa-verlag.de/h-p-lovecra ... huber.html
Hmmm.....
Ich glaube, ich hätte es lieber auf Deutsch
Das hier scheint mir auch ganz passend zu sein:
https://www.nikol-verlag.de/gesammelte- ... eschichten
Oder direkt "All in" und das hier:
https://www.festa-verlag.de/h-p-lovecra ... huber.html
Hmmm.....
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Re: Was lest ihr gerade? V2.0
Das zweite Ding hat natürlich echt richtig Gesicht. *huld*
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Re: Was lest ihr gerade? V2.0
Aber nur hinter vorgehaltener Hand.Thunderforce hat geschrieben: ↑09.11.2022 11:30 Das zweite Ding hat natürlich echt richtig Gesicht. *huld*
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Re: Was lest ihr gerade? V2.0
Wie ich es vorhergesehen habecostaweidner hat geschrieben: ↑09.11.2022 12:24Aber nur hinter vorgehaltener Hand.Thunderforce hat geschrieben: ↑09.11.2022 11:30 Das zweite Ding hat natürlich echt richtig Gesicht. *huld*
Re: Was lest ihr gerade? V2.0
und wie ich wusste wie das Cover aussieht noch bevor ich auf den Link geklickt habeThunderforce hat geschrieben: ↑09.11.2022 12:26Wie ich es vorhergesehen habecostaweidner hat geschrieben: ↑09.11.2022 12:24Aber nur hinter vorgehaltener Hand.Thunderforce hat geschrieben: ↑09.11.2022 11:30 Das zweite Ding hat natürlich echt richtig Gesicht. *huld*
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