NegatroN hat geschrieben: ↑26.02.2021 08:44
Lobi hat geschrieben: ↑26.02.2021 02:22Was verstehst Du denn unter Privilegien? Mir scheint hier nämlich das Problem zu liegen.
Privilegien sind konkrete gruppenbezogene Vorteile, die wiederum sichtbarer Ausdruck gesellschaftlicher, machtverteilungsbegründeter Assymentrie(n) sind. Ein Privileg an sich macht ein explizites Vorteilsverhältnis gegenüber einem oder mehreren weiteren Akteuren (Gruppen) auf; die Auflösung dieses Privilegs schafft also ganz konkret in einem oder mehreren bestimmten Sachverhalten zu allererst einmal irgendeine Gleichheit zwischen diesen zwei oder mehreren in diesem Verhältnis stehenden Akteuren; in wie fern und in welcher Zeit eine solche Gleichheit irgendeinen lebensweltlichen Effekt hat, ist nochmal ein weiteres Thema - der Blick auf die Details ist hier umumgänglich. Jemandem also ein Privileg "wegzunehmen", verwirklicht in Folge zu allererst einmal einen liberal-demokratischen Grundwert. Eigentlich müssten wir uns hier aber über Macht und ihre Verteilung in der Gesellschaft unterhalten, die diese Privilegien bedingen. Darauf beziehe ich mich oben auch. Ist auch egal.
Es ist im Einzelfall sicher unterschiedlich, je nachdem, von welchem Privileg wir hier gerade sprechen. Grundsätzlich bleibe ich aber bei dem Punkt. Wenn du mal das klassische Athen und das Bürgerrecht inkl. aller zugeörigen Privilegien wie Wahlrecht oder das Bekleiden von Ämtern nimmst, dann hast du genau den Fall, in dem das eben kein Nullsummenspiel ist. Wenn ich Frauen oder Sklaven das Bürgerrecht gebe, dann sind Männer deswegen nicht weniger Bürger als vorher. Sie müssen ihre Privilegien lediglich mit einer größeren Anzahl an Personen teilen. Wenn ich Männern hingegen das Bürgerrecht nehme, dann hab ich zwar Gleichheit zu den Frauen hergestellt. Es geht deswegen aber niemandem besser. Ich habe jetzt einfach nur mehr Unterprivilegierte.
Problematischer Vergleich. Aber auch daraus lässt sich ein anschauliches Beispiel basteln:
Angenommen, eine irgendwie idealisierte (dazu später noch was) attische Demokratie kennt eben nur diese drei Typen: Männer (zu Beginn privilegiert), Frauen, Sklaven. Wenn wir Frauen die gleichen Rechte wie den Männern geben, dann sind Männer gegenüber Frauen nicht mehr privilegiert; das Privileg löst sich auf zugunsten einer Gleichstellung auf. Beide Gruppen sind aber dann weiterhin gemeinsam und jeweils privilegiert gegenüber der Gruppe der Sklaven (sie "teilen" das Privileg). Im Vollzug dessen gibt die Gruppe der Männer auch de facto bspw. Gestaltungsmacht an die Gruppe der Frauen ab; die tatsächliche Macht also der Männer schmälert sich. Unverändert nicht existent bleibt das Machtniveau der Sklaven. Gewährt man nun allen die gleichen Rechte, wie sie zuvor den Männern exklusiv waren, dann löst sich das Privileg ganz auf (genau genommen es löst sich auf zwischen Mann - Sklave und Frau - Sklave, dazu unten noch eine Anmerkung). Es ist nicht mehr existent. Und die Gestaltungsmacht der Frauen und Männer schmälert sich dabei in dem Maße (hier nehmen wir mal an, in gleichen Teilen) wie die der ehemaligen Sklaven in Summe zunimmt (immer noch: idealisiert; Anmerkungen dazu folgen). Es herrscht also nun eine andere Machtverteilung vor; das Privileg einer oder dann der beiden Gruppen existiert nicht mehr; keiner ist mehr unterprivilegiert; keiner ist mehr ("gleich") privilegiert.
Privilegien lösen sich zwischen Akteuren (meist soz. Gruppen) auf; sie werden dann nicht in dem Wortsinn geteilt (umgangssprachlich kann man das sicher so sagen; missverständlich aber zumindest für meine Ohren). Wenn sich ein Privileg zwischen zwei Gruppen auflöst, ist keine dieser gegenüber der anderen mehr privilegiert, sie sind in de konkreten Sachverhalt gleichgestellt; wenn dieser dann gemeinsame Vorteil aber gegenüber einer weiteren Gruppe bestehen bleibt, ergibt sich ein neues Verhältnis; de facto verändert sich also hier ein Machtverhältnis (nicht aber zugunste der dann noch nicht privilegierten Gruppe).
Zum letzten Satz, wenn man den Männern das Bürgerrecht nehmen würde (ich klammere hier jetzt mal die Skalve aus): gegenüber wem sind dann beide Gruppen unterprivilegiert? Sollten beide Gruppen je unterprivilegiert sein, müssen sie das gegenüber mind. eines Dritten sein, der nun privilegiert ist, ggfls. sogar beiden Gruppen aufgrund seiner Machtposition dieses Privileg je entzogen hat - und somit selbst an Macht gewinnt. Auch hier haben wir also eine Veränderung des Machtverhätnisses. Um mal aus dem Ideal zum konkreten Beispiel überzugehen: bspw. zugunsten des Rats der 500 als dann vielleicht sowas wie ein absolutes Herrscherkonvolut, eine neue, dann privilegierte Gruppe konstituiert, in der sich Macht konzentiert.
Im Gedankenexperiment kann mann durchaus von einem Nullsummenspiel ausgehen, übertragen auf die Lebenswelt ist das allerdings gar nicht mal so sehr abstrakt, wenn man darüber nachdenkt; in der Lebenswelt kommen allerdings noch andere Faktoren dazu; auch sind Gruppen ja nicht gänzlich exklusiv. Machtdynamiken lassen sich dennoch dadurch ganz gut beschreiben und diese lassen es in der Regel nicht zu, dass ohne einen massiven Systemwandel (bspw. eine neue Verfassung auf legalem Weg oder via Systemabschaffung oder -umwälzung durch Revolution, Krieg, Katastrophe oder Snake Plissken - davon gehen wir mal nicht aus) nicht mindestens ein Akteur profitiert, wenn mindestens ein anderer, weiterer Akteur bspw. an Rechten einbüst; was auch bedeutet, dass beim unrealistischen, aber durchaus lehrreichen Beispiel der Gleichmachung aller (Macht-)Verhältnisse aller Akteure die am schlechtesten Gestellten davon in dem Maße profitieren (niemand ist mehr privilegiert oder unterprivilegiert) - das wird ja insoweit auch in anderen Theorien aufgegriffen.
Zu guter Letzt halte ich so einen Extremfall der kompletten Entmachtung einer Gruppe für unwahrscheinlich in unseren Breiten (das ist zentral, denn in anderen auch demokratisch designten Systemen sieht das ja anders aus); ja schon eine so gravierende Entmachtung einer Gruppe, dass diese überhaupt ihren Status verlieren wird; vielmehr dürfte hier zur Absicherung und Verfestigung einer eigenen Machtbasis kalkuliert Macht verteilt werden (salopp: umverteile Wohlstand mit einer Minderheit --> die Minderheit wählt dich) - und hier kann man ansetzen (damit meine ich jetzt auch kein krasses Teile und Herrsche); hier stellt sich dann die zentrale Frage, wie man es gewährleisten kann, dass eben diese Machtverteilung mindestens verhältnismäßig (ein Quasi-Rawls halt) den Schwächsten zugute kommen kann - ein übrigens liberaler Ansatz für ein einigermaßen faires und demokratisches System.
Der andere Fall ist dann tatsächlich ein Machtkampf (starkes Wort, nicht immer weniger stark gemeint), wie er in Russland oder in der Türkei oder in Ungarn und Polen verläuft, wie ihn aber aus einer anderen Perspektive und wesentlich softer der Feminismus bspw. erfolgreich führte. Oder klassischer: das Erwirken des Frauenwahlrechts (schönes Beispiel, wie sich hier und dann in den Folgejahren durch erst die rechtliche Abschaffung des Privilegs de facto Machtverhältnisse verändert haben), was den Kreis zum obigen, hingebogenen Athen-System oben schließt.
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Ein okayer Beitrag zur Thierse-Problematik:
https://www.deutschlandfunk.de/erwideru ... _id=493179
Ich persönlich finde ja vor allem seine Reaktionen im Interview schlimm. Sein Beitrag selbst ist peinlich banal.