Allgemeiner Politik/Zeitgeschehen-Thread, Teil 3

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borsti
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Re: Allgemeiner Politik/Zeitgeschehen-Thread, Teil 3

Beitrag von borsti »

crazy_monkey hat geschrieben: 27.11.2020 16:08 Dass die deutschsprachige Linke trotz des offensichtlichen Zusammenhangs von expandierender Naturausbeutung und Kapitalismus abgesehen von Gemeinwohlökonomieallgemeinplätzen und Postwachstums- und Degrowth-Theorie so wenig analytisches Potenzial entfaltet, wenn es darum geht, die Ursachen des dräuenden ökologischen Kollaps zu kritisieren, hat mich schon immer ein wenig verwundert. Allmählich scheint sich diese Leerstelle aber ein wenig zu füllen.

Die deutsche Umwelt- und Klima­bewegung entdeckt den Ökomarxismus
Klassenkampf für gutes Klima
Marxistische und ökosozialistische Konzepte gegen die drohende Klimakatastrophe spielten in Deutschland lange kaum eine Rolle. Das beginnt sich zu ändern.


https://jungle.world/artikel/2020/47/kl ... utes-klima
Ja genau, lasst uns den Marxismus wieder ausgraben, dieses gigantische Erfolgsmodell ökonomischer und politischer Gestaltung. Im 500. Anlauf wird es garantiert nicht wieder in einer Katastrophe enden. Wirklich jetzt! :klatsch:
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crazy_monkey
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Re: Allgemeiner Politik/Zeitgeschehen-Thread, Teil 3

Beitrag von crazy_monkey »

borsti hat geschrieben: 27.11.2020 16:26
crazy_monkey hat geschrieben: 27.11.2020 16:08 Dass die deutschsprachige Linke trotz des offensichtlichen Zusammenhangs von expandierender Naturausbeutung und Kapitalismus abgesehen von Gemeinwohlökonomieallgemeinplätzen und Postwachstums- und Degrowth-Theorie so wenig analytisches Potenzial entfaltet, wenn es darum geht, die Ursachen des dräuenden ökologischen Kollaps zu kritisieren, hat mich schon immer ein wenig verwundert. Allmählich scheint sich diese Leerstelle aber ein wenig zu füllen.

Die deutsche Umwelt- und Klima­bewegung entdeckt den Ökomarxismus
Klassenkampf für gutes Klima
Marxistische und ökosozialistische Konzepte gegen die drohende Klimakatastrophe spielten in Deutschland lange kaum eine Rolle. Das beginnt sich zu ändern.


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Ja genau, lasst uns den Marxismus wieder ausgraben, dieses gigantische Erfolgsmodell ökonomischer und politischer Gestaltung. Im 500. Anlauf wird es garantiert nicht wieder in einer Katastrophe enden. Wirklich jetzt! :klatsch:
Marxismus ist für mich zunächst mal keine normative Gesellschaftsutopie, sondern vielmehr eine systematisierte Werkzeugkiste, um ein ökonomisch geprägtes Gesellschaftsverhältnis (und in weiterer instanz auch Naturverhältnis) zu analysieren. Dass Marx gerade in diesen Kontexten immer wieder aufscheint und seine zigste Renaissance erlebt, kommt nicht von ungefähr, das liegt sowohl in der Erklärkraft des Kapitals als auch in dem Destruktionspotenzial des Kapitalismus begründet. Zudem gibt es den reinen orthodoxen Marxismus an sich ja gar nicht (mehr), vielmehr hat auch das marxistische Denken Revisionen, Erweiterungen und Neuformulierungen erfahren, die eben auch an historischen Erfahrungen geschult ist. Und zuletzt darf man sich - unabhängig von Marx'schen Schriften und ihrer orthodoxen oder heterodoxen Aulsegungen - auch mit Fug und Recht und gerne kontrovers die Frage stellen, ob Realsozialismus jemals Sozialismus war - und nicht vielmehr Staatskapitalismus oder ähnliches.
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Schnabelrock
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Re: Allgemeiner Politik/Zeitgeschehen-Thread, Teil 3

Beitrag von Schnabelrock »

crazy_monkey hat geschrieben: 27.11.2020 16:46 nicht vielmehr Staatskapitalismus
Über den Rest kann man diskutieren. Für das oben muss der Wille zur Umdefinition schon größer sein als alles sonst auf der Welt. Widde widde ...
In dubio contra googlio.
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crazy_monkey
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Re: Allgemeiner Politik/Zeitgeschehen-Thread, Teil 3

Beitrag von crazy_monkey »

Schnabelrock hat geschrieben: 27.11.2020 16:48
crazy_monkey hat geschrieben: 27.11.2020 16:46 nicht vielmehr Staatskapitalismus
Über den Rest kann man diskutieren. Für das oben muss der Wille zur Umdefinition schon größer sein als alles sonst auf der Welt. Widde widde ...
Um irgendwas definieren bzw. umdefinieren zu können, müsste man sich halt mal überhaupt erst auf eine Definition von Staatskapitalismus (der ja bsw. durchaus bsw. eine sozialistische und faschistische Ausprägung haben kann) einigen - beim Begriff Sozialismus wird es dann gleich noch schwieriger und kontroverser.
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Alphex
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Re: Allgemeiner Politik/Zeitgeschehen-Thread, Teil 3

Beitrag von Alphex »

Schnabelrock hat geschrieben: 27.11.2020 16:48
crazy_monkey hat geschrieben: 27.11.2020 16:46 nicht vielmehr Staatskapitalismus
Über den Rest kann man diskutieren. Für das oben muss der Wille zur Umdefinition schon größer sein als alles sonst auf der Welt. Widde widde ...
Naja, die Produktionsmittel, also die Firmen und deren Gerätschaften, waren ja nicht im Besitz der DDR-BürgerInnen, sondern staatlich verwaltet. Sozialismus ist ja nix anderes, als dass die Arbeiter selbst Besitzer der Werkzeuge bzw. Firmen sind (SEHR vereinfach gesagt). Das war ja nicht so. Ist ja auch in China nicht so.
"Wenn man in der Metalszene unterwegs ist, dann bekommt man quasi NIE politische Statements zu hören. Auch deswegen liebe ich diese Szene so. Politik ist dort nunmal kein Thema. Fast schon ein Tabuthema."
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borsti
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Re: Allgemeiner Politik/Zeitgeschehen-Thread, Teil 3

Beitrag von borsti »

crazy_monkey hat geschrieben: 27.11.2020 16:46 Und zuletzt darf man sich - unabhängig von Marx'schen Schriften und ihrer orthodoxen oder heterodoxen Aulsegungen - auch mit Fug und Recht und gerne kontrovers die Frage stellen, ob Realsozialismus jemals Sozialismus war - und nicht vielmehr Staatskapitalismus oder ähnliches.
Wahrscheinlich war es Manuel Neuer.

Der Sozialismus ist aus Sicht seiner Verfechter immer genau so lange Sozialismus, bis er nicht wieder in der Katastrophe endet. Danach soll es dann was ganz anderes gewesen sein. Typisches Fluchtmuster, das keinen mehr überzeugt.

Aber selbst wenn es so ist: Wenn sozialistische Strömungen immer wieder in ruinösen bis hin zu menschenverachtenden staatskapitalistischen Systemen enden, dann sagt das halt auch viel über die grundlegende Idee und ihre Verfechter aus.

Edit: Das Kapital halte ich ungeachtet dessen für ein wichtiges Werk. Falls es nicht Pflichtlektüre im BWL-Studium ist, sollte es das werden.

Die Idee, es zur Grundlage eines politischen Programms zu machen, war trotzdem eine der schlechtesten in der Menschheitsgeschichte.
Zuletzt geändert von borsti am 27.11.2020 18:37, insgesamt 1-mal geändert.
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metalbart
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Re: Allgemeiner Politik/Zeitgeschehen-Thread, Teil 3

Beitrag von metalbart »

Meiner Ansicht nach müsste man den 3. Weg gehen. der neoliberale Raubbau am öffentlichen Staat der letzten 40 Jahre kann nicht die Zukunft sein. Klar Ungleichheiten gab es immer, aber das extrem Ungleichhgewicht, was bsonders durch die internationalen Finanzmärkte entstanden ist, schafft einfach Frust und Nahrung für Nationalismus und Rechtspopulismus. Da muss mehr staatliche Regulierung her.
Da muss angesetzt werden. Das kann aber auch nicht einfach ein zurück in die 50er Jahre sein. Das wird nicht passieren.
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crazy_monkey
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Re: Allgemeiner Politik/Zeitgeschehen-Thread, Teil 3

Beitrag von crazy_monkey »

borsti hat geschrieben: 27.11.2020 17:39
crazy_monkey hat geschrieben: 27.11.2020 16:46 Und zuletzt darf man sich - unabhängig von Marx'schen Schriften und ihrer orthodoxen oder heterodoxen Aulsegungen - auch mit Fug und Recht und gerne kontrovers die Frage stellen, ob Realsozialismus jemals Sozialismus war - und nicht vielmehr Staatskapitalismus oder ähnliches.
Wahrscheinlich war es Manuel Neuer.

Der Sozialismus ist aus Sicht seiner Verfechter immer genau so lange Sozialismus, bis er nicht wieder in der Katastrophe endet. Danach soll es dann was ganz anderes gewesen sein. Typisches Fluchtmuster, das keinen mehr überzeugt.

Aber selbst wenn es so ist: Wenn sozialistische Strömungen immer wieder in ruinösen bis hin zu menschenverachtenden staatskapitalistischen Systemen enden, dann sagt das halt auch viel über die grundlegende Idee und ihre Verfechter aus.
Nein. Wenn Sozialismus oder besser: Kommunismus die dialektische Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse ist, wenn Sozialismus bedeutet, dass die Produktionsmittel jenen "gehören", die sie brauchen, wenn Sozialismus bedeutet, eine Balance zwischen Freiheit, Gleichheit/Gerechtigkeit zu finden, wenn Sozialismus weiterhin die Verdinglichung der Beziehungen von Mensch zu Mensch und Mensch zu Natur aufhebt, wenn Sozialismus schließlich in einer Befriedung gesellschaftlicher Antagonismen mündet, dann haben die realsozialistischen oder realkommunistischen Systeme in ihrer autoritären, staatszentrierten Ausformung tatsächlich wenig mit dem zu tun, was man vielleicht als Nukleus eines schillernden und ambigen Begriffs mit inkohärenter Ideengeschichte bezeichnen könnte. Das hat dann auch nichts mit Realitätsflucht gemein, sondern ist eine Sache intellektuell redlicher Argumentation.

Zudem haben wir Sozialisten alle Archipel Gulag gelesen und verstanden, keine Sorge.

PS - Lesetipp: https://www.suhrkamp.de/buecher/die_ide ... 29824.html
Fraoch
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Re: Allgemeiner Politik/Zeitgeschehen-Thread, Teil 3

Beitrag von Fraoch »

crazy_monkey hat geschrieben: 27.11.2020 18:55
borsti hat geschrieben: 27.11.2020 17:39
crazy_monkey hat geschrieben: 27.11.2020 16:46 Und zuletzt darf man sich - unabhängig von Marx'schen Schriften und ihrer orthodoxen oder heterodoxen Aulsegungen - auch mit Fug und Recht und gerne kontrovers die Frage stellen, ob Realsozialismus jemals Sozialismus war - und nicht vielmehr Staatskapitalismus oder ähnliches.
Wahrscheinlich war es Manuel Neuer.

Der Sozialismus ist aus Sicht seiner Verfechter immer genau so lange Sozialismus, bis er nicht wieder in der Katastrophe endet. Danach soll es dann was ganz anderes gewesen sein. Typisches Fluchtmuster, das keinen mehr überzeugt.

Aber selbst wenn es so ist: Wenn sozialistische Strömungen immer wieder in ruinösen bis hin zu menschenverachtenden staatskapitalistischen Systemen enden, dann sagt das halt auch viel über die grundlegende Idee und ihre Verfechter aus.
Nein. Wenn Sozialismus oder besser: Kommunismus die dialektische Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse ist, wenn Sozialismus bedeutet, dass die Produktionsmittel jenen "gehören", die sie brauchen, wenn Sozialismus bedeutet, eine Balance zwischen Freiheit, Gleichheit/Gerechtigkeit zu finden, wenn Sozialismus weiterhin die Verdinglichung der Beziehungen von Mensch zu Mensch und Mensch zu Natur aufhebt, wenn Sozialismus schließlich in einer Befriedung gesellschaftlicher Antagonismen mündet, dann haben die realsozialistischen oder realkommunistischen Systeme in ihrer autoritären, staatszentrierten Ausformung tatsächlich wenig mit dem zu tun, was man vielleicht als Nukleus eines schillernden und ambigen Begriffs mit inkohärenter Ideengeschichte bezeichnen könnte. Das hat dann auch nichts mit Realitätsflucht gemein, sondern ist eine Sache intellektuell redlicher Argumentation.

Zudem haben wir Sozialisten alle Archipel Gulag gelesen und verstanden, keine Sorge.

PS - Lesetipp: https://www.suhrkamp.de/buecher/die_ide ... 29824.html
Das ist schön, alles.
Aha!
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Re: Allgemeiner Politik/Zeitgeschehen-Thread, Teil 3

Beitrag von Fraoch »

NegatroN hat geschrieben: 26.11.2020 22:15
Fraoch hat geschrieben: 26.11.2020 21:06
NegatroN hat geschrieben: 26.11.2020 21:03
Fraoch hat geschrieben: 26.11.2020 20:56Hast Du noch weiter gelesen? Habe das noch ausgeführt wie es gedacht war.
Belehrung
So war es nicht gemeint.
Akzeptiert. Aber du musst zugeben, dass der Einstieg mit "Finde den Fehler" als Antwort auf eine bloße Beschreibung jetzt nicht unbedingt nach einer Ergänzung auf Augenhöhe klingt. :wink:
Jau, kann man so lesen, war nur wirklich so nicht gemeint. Ist in letzter Zeit mehr Teil meines Sprachgebrauchs gewesen, hat aber dabei nicht den Impetus einer Ansprache, mehr den eines Ausrufs. Aber ey, Internet+Menschen bedeutet immer eine schlingernde und komplizierte Kommunikation mit Fallstricken. Kenn da so n paar Geschichten.
Aha!
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borsti
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Re: Allgemeiner Politik/Zeitgeschehen-Thread, Teil 3

Beitrag von borsti »

crazy_monkey hat geschrieben: 27.11.2020 18:55
borsti hat geschrieben: 27.11.2020 17:39
crazy_monkey hat geschrieben: 27.11.2020 16:46 Und zuletzt darf man sich - unabhängig von Marx'schen Schriften und ihrer orthodoxen oder heterodoxen Aulsegungen - auch mit Fug und Recht und gerne kontrovers die Frage stellen, ob Realsozialismus jemals Sozialismus war - und nicht vielmehr Staatskapitalismus oder ähnliches.
Wahrscheinlich war es Manuel Neuer.

Der Sozialismus ist aus Sicht seiner Verfechter immer genau so lange Sozialismus, bis er nicht wieder in der Katastrophe endet. Danach soll es dann was ganz anderes gewesen sein. Typisches Fluchtmuster, das keinen mehr überzeugt.

Aber selbst wenn es so ist: Wenn sozialistische Strömungen immer wieder in ruinösen bis hin zu menschenverachtenden staatskapitalistischen Systemen enden, dann sagt das halt auch viel über die grundlegende Idee und ihre Verfechter aus.
Nein. Wenn Sozialismus oder besser: Kommunismus die dialektische Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse ist, wenn Sozialismus bedeutet, dass die Produktionsmittel jenen "gehören", die sie brauchen, wenn Sozialismus bedeutet, eine Balance zwischen Freiheit, Gleichheit/Gerechtigkeit zu finden, wenn Sozialismus weiterhin die Verdinglichung der Beziehungen von Mensch zu Mensch und Mensch zu Natur aufhebt, wenn Sozialismus schließlich in einer Befriedung gesellschaftlicher Antagonismen mündet, dann haben die realsozialistischen oder realkommunistischen Systeme in ihrer autoritären, staatszentrierten Ausformung tatsächlich wenig mit dem zu tun, was man vielleicht als Nukleus eines schillernden und ambigen Begriffs mit inkohärenter Ideengeschichte bezeichnen könnte. Das hat dann auch nichts mit Realitätsflucht gemein, sondern ist eine Sache intellektuell redlicher Argumentation.
Also in der Theorie klang es immer gut, keine Frage. Nur waren die Menschen stets verdammt, wenn sie sich von dieser Verheißung blenden ließen. Unter Honecker wurde fast exakt das gleiche Narativ benutzt, um die glorreiche Zukunft zu schildern, auf die sich die Menschheit dank der Erleuchteten der SED zubewegt. Man durfte nur nie den Fehler machen und sich die Realität dazu anschauen.

Kommunismus und Sozialismus: Das hatte und hat meiner Ansicht nach sehr viel von einer religiösen Heilslehre. Die Verheisung des Paradieses liegt stets in der Zukunft, absolut Perfekt und fast zum greifen nah. Man muss nur noch kurz das entbehrungsvolle Diesseits ertragen. Aber natürlich kam diese Paradies niemals für irgendjemandem und das wird es auch in Zukunft nicht.
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Re: Allgemeiner Politik/Zeitgeschehen-Thread, Teil 3

Beitrag von Lobi »

borsti hat geschrieben: 27.11.2020 21:01
crazy_monkey hat geschrieben: 27.11.2020 18:55
borsti hat geschrieben: 27.11.2020 17:39
crazy_monkey hat geschrieben: 27.11.2020 16:46 Und zuletzt darf man sich - unabhängig von Marx'schen Schriften und ihrer orthodoxen oder heterodoxen Aulsegungen - auch mit Fug und Recht und gerne kontrovers die Frage stellen, ob Realsozialismus jemals Sozialismus war - und nicht vielmehr Staatskapitalismus oder ähnliches.
Wahrscheinlich war es Manuel Neuer.

Der Sozialismus ist aus Sicht seiner Verfechter immer genau so lange Sozialismus, bis er nicht wieder in der Katastrophe endet. Danach soll es dann was ganz anderes gewesen sein. Typisches Fluchtmuster, das keinen mehr überzeugt.

Aber selbst wenn es so ist: Wenn sozialistische Strömungen immer wieder in ruinösen bis hin zu menschenverachtenden staatskapitalistischen Systemen enden, dann sagt das halt auch viel über die grundlegende Idee und ihre Verfechter aus.
Nein. Wenn Sozialismus oder besser: Kommunismus die dialektische Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse ist, wenn Sozialismus bedeutet, dass die Produktionsmittel jenen "gehören", die sie brauchen, wenn Sozialismus bedeutet, eine Balance zwischen Freiheit, Gleichheit/Gerechtigkeit zu finden, wenn Sozialismus weiterhin die Verdinglichung der Beziehungen von Mensch zu Mensch und Mensch zu Natur aufhebt, wenn Sozialismus schließlich in einer Befriedung gesellschaftlicher Antagonismen mündet, dann haben die realsozialistischen oder realkommunistischen Systeme in ihrer autoritären, staatszentrierten Ausformung tatsächlich wenig mit dem zu tun, was man vielleicht als Nukleus eines schillernden und ambigen Begriffs mit inkohärenter Ideengeschichte bezeichnen könnte. Das hat dann auch nichts mit Realitätsflucht gemein, sondern ist eine Sache intellektuell redlicher Argumentation.
Also in der Theorie klang es immer gut, keine Frage. Nur waren die Menschen stets verdammt, wenn sie sich von dieser Verheißung blenden ließen. Unter Honecker wurde fast exakt das gleiche Narativ benutzt, um die glorreiche Zukunft zu schildern, auf die sich die Menschheit dank der Erleuchteten der SED zubewegt. Man durfte nur nie den Fehler machen und sich die Realität dazu anschauen.

Kommunismus und Sozialismus: Das hatte und hat meiner Ansicht nach sehr viel von einer religiösen Heilslehre. Die Verheisung des Paradieses liegt stets in der Zukunft, absolut Perfekt und fast zum greifen nah. Man muss nur noch kurz das entbehrungsvolle Diesseits ertragen. Aber natürlich kam diese Paradies niemals für irgendjemandem und das wird es auch in Zukunft nicht.
Ich vermisse so ein bisschen ein bezogenes Argument. Klar, Unrechtsregime sind doof; egal wie sie sich nennen. Bekanntlich waren ja die schlimmsten Sozialisten die Nationalsozialisten. Aber so am Gegenstand Kommunismus und Sozialismus und auch an dieser ursprünglichen Idee, dieser Theorie, von Marx bis heute argumentiert ist das halt nicht. Mach mal. Begeistere mich!
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crazy_monkey
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Re: Allgemeiner Politik/Zeitgeschehen-Thread, Teil 3

Beitrag von crazy_monkey »

borsti hat geschrieben: 27.11.2020 21:01
crazy_monkey hat geschrieben: 27.11.2020 18:55
borsti hat geschrieben: 27.11.2020 17:39
crazy_monkey hat geschrieben: 27.11.2020 16:46 Und zuletzt darf man sich - unabhängig von Marx'schen Schriften und ihrer orthodoxen oder heterodoxen Aulsegungen - auch mit Fug und Recht und gerne kontrovers die Frage stellen, ob Realsozialismus jemals Sozialismus war - und nicht vielmehr Staatskapitalismus oder ähnliches.
Wahrscheinlich war es Manuel Neuer.

Der Sozialismus ist aus Sicht seiner Verfechter immer genau so lange Sozialismus, bis er nicht wieder in der Katastrophe endet. Danach soll es dann was ganz anderes gewesen sein. Typisches Fluchtmuster, das keinen mehr überzeugt.

Aber selbst wenn es so ist: Wenn sozialistische Strömungen immer wieder in ruinösen bis hin zu menschenverachtenden staatskapitalistischen Systemen enden, dann sagt das halt auch viel über die grundlegende Idee und ihre Verfechter aus.
Nein. Wenn Sozialismus oder besser: Kommunismus die dialektische Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse ist, wenn Sozialismus bedeutet, dass die Produktionsmittel jenen "gehören", die sie brauchen, wenn Sozialismus bedeutet, eine Balance zwischen Freiheit, Gleichheit/Gerechtigkeit zu finden, wenn Sozialismus weiterhin die Verdinglichung der Beziehungen von Mensch zu Mensch und Mensch zu Natur aufhebt, wenn Sozialismus schließlich in einer Befriedung gesellschaftlicher Antagonismen mündet, dann haben die realsozialistischen oder realkommunistischen Systeme in ihrer autoritären, staatszentrierten Ausformung tatsächlich wenig mit dem zu tun, was man vielleicht als Nukleus eines schillernden und ambigen Begriffs mit inkohärenter Ideengeschichte bezeichnen könnte. Das hat dann auch nichts mit Realitätsflucht gemein, sondern ist eine Sache intellektuell redlicher Argumentation.
Also in der Theorie klang es immer gut, keine Frage. Nur waren die Menschen stets verdammt, wenn sie sich von dieser Verheißung blenden ließen. Unter Honecker wurde fast exakt das gleiche Narativ benutzt, um die glorreiche Zukunft zu schildern, auf die sich die Menschheit dank der Erleuchteten der SED zubewegt. Man durfte nur nie den Fehler machen und sich die Realität dazu anschauen.

Kommunismus und Sozialismus: Das hatte und hat meiner Ansicht nach sehr viel von einer religiösen Heilslehre. Die Verheisung des Paradieses liegt stets in der Zukunft, absolut Perfekt und fast zum greifen nah. Man muss nur noch kurz das entbehrungsvolle Diesseits ertragen. Aber natürlich kam diese Paradies niemals für irgendjemandem und das wird es auch in Zukunft nicht.
Zwar kann ich nicht sehen, inwiefern marxistischen/kommunistischen/sozialistischen Ideen eine masochistische Erleidens- und Erduldungsideologie immanent sein soll, die überhaupt erst den im Jetzt aufgeschobenen Weg in das Paradies weist, wohl aber ist es richtig, dass man bsw. gerade beim frühen Marx einen gewissen teleologischen Messianismus, eine gewisse Vorstellung von Entfremdung immanent ist, die wiederum eine nicht unproblematische Vorstellung von Unvermitteltheit, Ursprünglichkeit oder Natürlichkeit impliziert und die auch später noch bsw. in der Differenz von Gebrauchs- und Tauschwert, im Begriff der entfremdeten Arbeit Ausdruck finden mag. Und es stimmt auch, dass ein genuin materialistische Geschichtsontologie einen gewissen passiven Widerfährnisglauben, den der Einblick in die ehernen Gesetze der Geschichte Vorschub leistet, befördert, zumindest in ihrer vulgärmarxistischen Manifestation. Das kann und soll man kritisieren, wurde auch von linker Seite immer wieder dekonstruiert.
Ich meine aber auch, dass dieser scheinbar aus der Zeit gefallene, nicht-metaphysische Messianismus des Kommunismus/Marxismus eine seiner großen Stärke ist, zumindest wenn man ihn dialektisch begreift und nicht anhand historisch sowieso kontingenter Episteme normativ-konkret entwirft, sondern vielmehr als utopischen Moment begreift, als Vorschein des ganz Anderen, das möglich ist, also jener Moment der Versöhnung, in dem das Allgemeine und das Besondere zu ihrem Recht kommen, als Impetus, der sich am manifesten Unrecht entzündet und über es hinaustreibt.
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Re: Allgemeiner Politik/Zeitgeschehen-Thread, Teil 3

Beitrag von NegatroN »

Fraoch hat geschrieben: Jau, kann man so lesen, war nur wirklich so nicht gemeint. Ist in letzter Zeit mehr Teil meines Sprachgebrauchs gewesen, hat aber dabei nicht den Impetus einer Ansprache, mehr den eines Ausrufs. Aber ey, Internet+Menschen bedeutet immer eine schlingernde und komplizierte Kommunikation mit Fallstricken. Kenn da so n paar Geschichten.
Alles gut.
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Re: Allgemeiner Politik/Zeitgeschehen-Thread, Teil 3

Beitrag von Mustl »

Laibach haben auf facebook einen Brief von Biden an Tito von 1979 gepostet. Zumindest für mich interessant *g*

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