tafkasc hat geschrieben: ↑22.03.2020 13:15
Ghost_in_the_Ruin hat geschrieben: ↑22.03.2020 12:30
Ich fand die bisherigen politischen Maßnahmen bis Anfang dieser Woche auch gut. Das Bundesgesundheitsministerium hat gut reagiert und die Aussetzung von Veranstaltungen und Freizeitaktivitäten wie Sportveranstaltungen, Kulturbetrieb usw. finde ich auch richtig. Diese Woche kommt es mir aber vor, als habe ein Überbietungswettbewerb eingesetzt. Innerhalb Deutschlands und mit Blick auf die Nachbarländer. Und das eben, ohne Erkenntnis darüber, was die bisherigen Maßnahmen für Auswirkungen hatten.
Wenn man im Dunkeln in einem unbekannten Fahrzeug auf einen Abgrund zusteuert, dann kann (!) es schon mal ex-ante rational sein alles zu tun, was effektiv sein kann aber nicht unbedingt effizient ist, um zu verhindern, dass man über die Klippe fällt. Mit ein bisschen Glück lernt man dabei auch so viel, dass man beim nächsten Mal weiß, ob man die Fußbremse, die Handbremse, den Bremsfallschirm, einen niedrigeren Gang, die Schubumkehr oder alles zusammen braucht oder ob man sich den Abgrund vlt nur eingebildet hat.
https://www.ebm-netzwerk.de/de/medien/p ... tzwerk.pdf
Da steht viel Kritisches drin, aber eben auch:
Es gibt insgesamt noch sehr wenig belastbare Evidenz – weder zu COVID-19 selbst, noch zur Effekti-
vität der derzeit ergriffenen Maßnahmen. Aber es ist nicht auszuschließen, dass die COVID-19 Pande-
mie eine ernstzunehmende Bedrohung darstellt, und NPIs – trotz weitgehend fehlender Evidenz – das
einzige sind, was getan werden kann, wenn man nicht einfach nur zusehen und hoffen will. Selbst wenn
man von der günstigsten Annahme ausgeht, dass die CFR letztendlich deutlich unter 1% zu liegen
kommt (vor allem aufgrund der Nichterfassung asymptomatischer und milder Fälle) und in erster Linie
ältere Menschen und Menschen mit Komorbiditäten betroffen sind, so ist dennoch aufgrund der raschen
Ausbreitung der Erkrankung mit einer hohen Anzahl von Toten zu rechnen.
NPIs erscheinen unter Abwägen der Pro und Contra-Argumente derzeit sinnvoll, aber sie sollten nicht
ohne akribische Begleitforschung durchgeführt werden. Hierfür ist es erforderlich jetzt neben der ohne
Zweifel erforderlichen virologischen Grundlagenforschung umgehend Kohorten und Register aufzu-
bauen, um für zukünftige Pandemie-Situationen wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse zu sammeln.
Unter anderem ist es sinnvoll, Zufallsstichproben der Gesamtbevölkerung auf SARS-CoV-2 zu untersu-
chen, um die wahre Durchseuchungsrate zu erfassen. Zudem wäre es wichtig, die gesamte Infektions-
und Krankheitslast durch „Influenza-like-Illness“ sowie deren Folgen in einer repräsentativen Bevölke-
rungsstichprobe zu erfassen, ähnlich wie dies beispielsweise in der britischen Flu Watch Cohort Study
gemacht wurde [20] und von John Ioannidis nachdrücklich gefordert wird [18].
Das Problem ist, dass es tatsächlich sehr viele Ungewissheiten gibt und extrem wenig Zeit. Und das ist auch ein wichtiger Unterschied zur Klimakrise.
Danke für den Link. Das ist in der Tat eine erfrischend ausgewogene Betrachtung der Pandemie und den tatsächlichen Kenntnissen und dem was kommuniziert wird. Mir gibt bei den aktuellen Maßnahmen (und der neuerlichen bundesweiten Verschärfung) halt auch folgendes zu Denken:
In einer Modellrechnung der Arbeitsgruppe COVID-19 am Imperial College wird prognostiziert, dass die Durchführung radikaler NPIs – wie derzeit angestrebt bzw. schon umgesetzt – zu einer zweiten, ebenso gravierenden Pandemiewelle im Herbst 2020 führen könnte, wenn die NPIs nach drei Monaten gelockert werden [16]. Alternativ könnte eine „On-Off-Strategie“ gefahren werden, die durchzuhalten wäre, bis etwa 60-70% der Bevölkerung die Erkrankung durchgemacht haben und immun geworden sind, und sich hierdurch eine Herdenimmunität entwickelt hat. Dies würde aber bedeuten, dass für etwa ein Jahr in Intervallen für insgesamt zwei Drittel der gesamten Zeit drastische NPIs in Kraft wären [16].
Dein Bild mit dem Auto, das im Dunkeln auf eine Schlucht zufährt, finde ich nicht passend. Diese Situation zeigt auf, dass es da für alle Insassen um Leben und Tod geht und es nur zwischen diesen beiden Extremen ausgehen kann (sofern es diese Schlucht gibt). Diese Situation haben wir durch Corona nun ja auch in den düstersten Prognosen nicht.
Und wie weiter oben beschrieben, bin ich ja auch nicht der Meinung: „Corona? Scheiß egal, ich hab Bock auf Party!“ Ich bleibe auch zuhause und habe meine direkten Sozialkontakte in den letzten zehn Tagen fast auf null runtergefahren. Mich stört aber dieses sich über andere erhebende Einfordern von striktesten Maßnahmen, weil es ja sonst nicht klappen kann und „die Leute“ es einfach nicht kapieren würden. Dass das dann dazu führt, dass mal eben, ohne jegliche Gegenrede oder Infragestellung inzwischen bei Strafe (jedenfalls eventuell in NRW, wie Laschet verkündet hat) verboten werden soll, dass man in „Gruppen“ von mehr als zwei Leuten beieinander steht, geht mir da schon klar zu weit. Sascha Lobo hat in seiner Kolumne von der „Vernunftpanik“ gesprochen, die dazu führt, dass man, „um sein Haus zu löschen direkt den ganzen Stausee umleitet“. Genau das Gefühl habe ich derzeit auch.
Zum Glück werden inzwischen aber auch in den Medien wieder kritischere Betrachtungen eingebracht:
https://www.zeit.de/politik/deutschland ... nd-laender