Flow hat geschrieben: ↑09.02.2020 17:55
Und es ist ja auch irgendwie schon wieder haarsträubend, dass ich da nur alte Rotze aufliste.
Nö, finde ich gar nicht haarsträubend. Erstens sind Platten wie ThOF und WEth ja mitneffen und mitnichten olle Kamellen, sondern, wie Du sehr schön ausgeführt hast, voll am Puls der Zeit, vom Songwriting, von der "Performance" und von den Soundvorstellungen her. Allenfalls die Urheber dieser Musik könnten dem Früher-war-alles-besser-Verdacht unterliegen. Tun sie aber irgendwie auch nicht, weil sie in ihrer Entwicklung offenkundig niemals stehengeblieben sind - außer Tool vielleicht.
Daß mich der Prog-Metal jüngerer Semester ebenfalls nicht richtig anmacht, liegt nur bedingt an deren Fokussierung auf technische Kunststückchen. Ich glaube, das ist tatsächlich sowas wie ein kleines Generationenproblem. Darüberhinaus hat es natürlich mit unterschiedlichen Temperamenten und Charakteren zu tun.
Jim Matheos hat auf "Theories" ja den Song "The ghosts of home" veröffentlicht, der sehr persönlich gehalten ist. Da beschreibt er sich als kleinen Jungen, der in seiner Kindheit dauernd umziehen mußte und so nie oder sehr schlecht dauerhaftere Kontakte aufrechterhalten konnte. Der kleine Junge in den Songlyrics sagt jedesmal "Tschüss" zu den Räumen, den Wänden und Fenstern der Wohnungen, die er wieder verlassen muß. So etwas kann fast nur in einer Zeit vor dem Internet und dem Smartphone passiert sein, denn warum sollte ein kleiner Junge heute bzw. bereits in den 90ern eine Beziehung zu den Räumen, in denen er (zu) kurz gelebt hat, aufbauen, wenn er sich mit zwei Klicks vor seiner Einsamkeit und Verlassenheit vordergründig in die Sicherheit distanzierter Kommunikation retten kann, die ihn von seinen aversiven Gefühlen zumindest für den Moment erlöst?
Daß Jim Matheos als Kind bei Regen noch am Fenster gesessen hat und sich seinen Gedanken und Gefühlen überlassen, anstatt dieselben zu betäuben oder verleugnen, quillt aus jeder einzelnen seiner Kompositionen.
Ein anderes Beispiel wäre der Part IX des von Dir genannten Jahrhundert-Albums "A Pleasant Shade Of Grey", mit dem ich übrhaupt erst Zugang zu Fates bekommen habe. Hier stammt der Text vermutl. von Ray Alder, aber auch hier liegt der Sprecher nachts im Bett und schreibt im Kopf Briefe! Muß man jetzt nicht groß weiter ausführen, denke ich. Kann sich jemand... ich möchte keiner jüngeren Band zu nahe treten... sagen wir: einen Periphery-Song vorstellen, bei dem das lyrische Dings nachts im Kopf Briefe schreibt? Es gibt ganz bestimmt auch noch viele jüngere Musiker, die sensibel und aufmerksam genug sind, solche Emotionen zuzulassen und sie künstlerisch zu verarbeiten. Aber - und da stimme ich Euch ebenfalls zu - im Prog Metal würde mir jetzt auch auf Anhieb keiner einfallen. Nicht Gildenlöw, nicht Henshall und ganz gewiß wohl nicht Mansoor.
Natürlich bedeutet das nicht, daß alle Prog-Metal-Masterminds aus der Generation von Matheos irgendwie "tiefsinniger" wären als ihre Nachfolger. Von John Petrucci kann ich mir - bei allem riesigen Respekt und bei aller Liebe für seine Arbeit - ebenfalls nicht recht vorstellen, daß er solche psychologischen Feinheiten nicht nur in Texte, sondern auch in Musik übersetzen könnte, möchte oder würde. Er scheint einfach nicht der Typ/Charakter dafür zu sein. Und irgendwie auch sonst niemand in Dream Theater. Das ist okay, das ist kein Makel oder sowas, aber wenn man
in diesem Punkt LaBrie (der selten seine Texte selber schreibt) und Petrucci mit Arch und Matheos vergleicht, dann hat man auf der einen Seite sympathische Spitzensportler und auf der anderen nachdenkliche Systemkritiker.
Und es ist wohl letztlich doch so, daß DT für allermeisten späteren Prog-Metal-Musiker weit wegweisender gewesen sein dürften als FW. Sozusagen eine Weggabelung der musikalischen Evolution, genauer gesagt, des Mainstreams derselben. Denn natürlich wird es Ausnahmen zum eben von mir sehr vereinfacht Gesagten geben.
Aus beiden Gründen aber nehme ich an, daß für mich das irgendwannige muskalische Verstummen von John Arch und Jim Matheos ein sehr einschneidender Punkt in meinem Leben als Musikhörer werden wird. Möge es noch lange auf sich warten lassen.