Für kauzige Teetrinker: Der Jethro Tull Reviewthread

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DerMitDemHut
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Für kauzige Teetrinker: Der Jethro Tull Reviewthread

Beitrag von DerMitDemHut »

Nachdem Oger und Kevsaver den großen Jahrhundertsamplertausch veranstaltet haben und Kevsaver jeweils von Oger einen Jethro Tull-Sampler und umgekehrt Oger von Kevsaver einen Eric Clapton Sampler bekommen hatte und die einzelnen Songs reviewt wurden, kam von beiden der Vorschlag, dass ich mal einen Jethro Tull Reviewthread auf machen sollte.

Jethro Tull sind eine meiner absoluten Lieblingsbands und definitiv in meiner Top Five neben Maiden, Agalloch, Dio und Van Der Graaf Generator. Die Band bedeutet mir sehr viel, da ihre Texte mir aus der Seele sprechen, ich die Band dreimal live gesehen habe, einmal sogar backstage. Ich habe nicht nur alle Alben, einige habe ich auch doppelt (die alten CD Versionen und dann die Remaster mit Bonustracks). Auch diverse Bootlegs sind in meiner Sammlung vertreten, was sich durchaus lohnt, da Tull live jedesmal anders klingen. Ian Anderson ist einer der ganz großen Köpfe der Rockmusik, keine Drogenskandale, keine Saufeskapaden, keine Pöbeleien. Nur intelligente Texte und innovative Songs und ein sehr kauziges Auftreten. Ich liebe diesen Mann, der zwar alt und etwas handzahm geworden ist, aber auf der Bühne noch einiges zu Stande bringt - leider aber nicht mehr so gut bei Stimme ist. Ein Multiinstrumentalist und Autodidakt, Songwriter, Dichter und darüber Hinaus Kritiker des Zeitgeistes, Feind des Konformismus und zu guter Letzt Umweltschützer. Seine Stimme hat nicht das Format eines Bruce Dickinson, Ronnie James Dio, Peter Gabriel oder Geoff Tate. Seine Stimme klingt sehr sachlich, nüchtern. So wie er spricht, klingt eigentlich auch seine Sangesstimme. Sehr natürlich also, als säße er grade neben einem und erzählt einem eine Geschichte. Wobei anzumerken ist, dass sein Stimmvolumen in den 70ern am größten war.

Nunja, das ist nicht wenig Arbeit, all die Reviews zu verfassen und dabei noch mit Nerdwissen aufzuwarten, wie etwa Deth mit seinem Pink Floyd Thread, daher werdet ihr mir verzeihen müssen, wenn ich auf die Rezensionen zurückgreife, die ich vor Jahren mal bei Amazon geschrieben habe. Diese werde ich forenspezifisch natürlich modifizieren.

Ich werde die Alben chronologisch durcharbeiten.


Die Reviews:


This Was (1968)
Stand Up (1969)
Benefit (1970)
Aqualung (1971)
Thick As A Brick (1972)
A Passion Play (1973)
Warchild (1974)
Minstrel In The Gallery (1975)
Too Old To Rock N Roll-Too Young To Die (1976)
Songs From The Wood (1977)
Heavy Horses (1978)
Stormwatch (1979)
-A- (1980)
Broadsword And The Beast (1982)
Under Wraps (1984)
Crest Of A Knave (1987)
Rock Island (1989)
Catfish Rising (1991)


Viel Spass beim Lesen :)


Here we go:



Jethro Tull: "This Was" (1968)


(Cover)

Jethro Tull waren zu ihren Anfangszeiten eine von vielen Bluesbands Ende der Sechziger, von ihrem typischen klassizistischen und folkloristischen Anleihen ist hier noch nicht viel zu hören, zumindest nicht auf den regulären Songs des Albums.

Der Boss in der Band damals war offensichtlich noch nicht Anderson, welcher selbst eh nicht viel von seinen Gesangstalenten hielt und das Spielen der Querflöte gerade erst erlernte, sondern Gitarrist Mick Abrahams, dessen Spiel Zweifelsohne von Jimi Hendrix und Eric Clapton (als dieser noch bei Cream spielte) beeinflusst war. Abrahams soll sogar versucht haben, Anderson dazu zu überreden, das Flötenspiel aufzugeben und ihm den Gesang zu überlassen, was bedeutet hätte, dass Anderson sich nur noch auf die Mundharmonica
hätte beschränken müssen und Tull nicht zu der grandiosen und innovativen Band geworden wäre, welche später Musikgeschichte schrieb.

Daher beschlossen Anderson und der Rest der Band, für welche schon feststand, dass es nicht beim musikalisch limitierten Blues bleiben würde, Abrahams rauszuschmeissen. Daher markiert THIS WAS nur einen temporären Abschnitt in der Geschichte von Tull. Hervorzuheben sind das genial groovende
A SONG FOR JEFFREY mit Andersons verzerrtem, näselnden Gesang, der kommerzielle Bonustrack LOVE STORY und das sehr bewegende und rührende A CHRISTMAS SONG, einem der ersten folkloristisch und klassisch orientierten Songs von Tull, in welchem sich bereits die zukünftige musikalische Richtung der Band abzeichnete. Trotz ihrer Genialität rechtfertigen diese Songs nicht unbedingt einen Kauf von THIS WAS, da diese auch auf dem
72er Album LIVING IN THE PAST zu finden sind, einen Sampler mit etlichen bis dato unveröffentlichten Songs. Auch nicht übel ist das Instrumental DHARMA FOR ONE, auf welchem Schlagzeuger Clive Bunker seine Talente zur Schau stellte, auch dieser Song ist auf LIVING IN THE PAST vertreten, allerdings als zehnminütige und ungleich melodischere und dramatischere Liveversion mit Gesang und Hammondorgel. Daher ist THIS WAS nur eingefleischten Bluesrockfreunden zu empfehlen, welche eher auf Led Zeppelin oder Cream stehen. Den typischen Jethro Tull - Sound repräsentiert dieses Album nicht. Die Nachfolgealben STAND UP oder BENEFIT waren da schon besser, weil variabler. A SONG FOR JEFFREY widmete Anderson seinem langjährigem Schulfreund Jeffrey Hammond-Hammond, welcher etwa drei Jahre später Glenn Cornick am Bass ablösen sollte und dann selbst bei Tull spielte.

Die Einzelbewertung der Songs:

My Sunday Feeling: Ein sehr bluesbasierter Song mit vorantreibendem Rhythmus, dem bereits markanten Flötenspiel und bereits schon auf die Glanztaten der Zukunft verweisend. Auch heute noch ist dieser erste Jethro Tull Song überhaupt noch im Live-Repertoire der Band vorhanden. Locker flockig, lasziv, fröhlich und dennoch irgendwie heavy-urwüchsig. Einer der wenigen Songs dieses Albums, bei denen Ian Andersons Stimme deutlich zu erkennen ist und er sich den Gesang nicht mit Mick Abrahams teilt oder durch nen Telefonhörer singt. 8/10


Some Day The Sun Wont Shine For You: Blues. Nur etwas Akustikgitarre, Mundharmonika und zweistimmiger Gesang zwischen Abrahams und Anderson. Gesanglich sehr schief und auch nicht sehr bewegend. Live hat Ian Anderson später viel mehr aus diesem Song rausgeholt, hier klingt er leider noch sehr mager. 6/10

Beggars Farm: Hier kommt bereits die typische Kauzigeit zu Tage, für welche Tull so bekannt geworden sind. Ein leicht hektischer, stark jazziger Song mit sehr nasalem Gesang, als hätte Anderson Schnupfen oder singt durch ein Grammophon. Dieser Song klingt so staubig und miefig, als würde man eine uralte Schallplatte aus den 20ern hören - durch ein genauso vergammeltes Tröten-Grammophon. Rhythmisch sehr pittoreskes Drumming von Clive Bunker, ein sehr freches Flötensolo. 9/10

Move On Alone: Könnte ein Beatles Song sein, nur etwas (natürlich) bluesiger. Mick Abrahams singt hier alleine und im Hintergrund hört man ein Blasorchester, welches Ian Anderson nachträglich mit Hilfe von David Palmer ohne Abrahams Wissen untergeschmuggelt hat, um einen recht mageren Blues-Song aufzuwerten. Ganz nett. 6/10

Serenade To A Cuckoo: Eine Coverversion von Roland Kirk - dem Pionier des Flötenspiels im Jazz. Hier ist deutlich zu vernehmen, wie eng sich Anderson an Kirk orientiert und sich auch sehr eng an die Vorlage hält. Ein reines Instrumental, die Gitarren spielen kaum eine Rolle. Nette Drum-Fills, sehr tolle Flötensoli. Ich mag es. 8/10

Dharma For One: Wieder ein Instrumental. Clive Bunker hämmert ein wenig auf seinem Drumkit rum, dazu ein paar bizarre Soundeffekte, etwas Gitarre und Flöte und fertig ist der Song. Nichts Wildes. Jethro Tull haben zwei Jahre später live sehr viel mehr aus diesem Song rausgeholt. Der spätere Bassist und damalige Bandroadie Jeffrey Hammond Hammond spielt hier die Mundorgel. 7/10

Its Breaking Me Up: Wieder so ein Abraham'scher Blues Song. Mundharmonika, Slide-Gitarre. Ich finde ich stinklangweilig. 5/10

Cats Squirrel: Kevsaver wird diesen Song garantiert kennen. Ein traditionelles Volkslied, welches bereits von Cream ein Jahr zuvor gecovert wurde. Auf dem Album "This Was" hört man auch ganz deutlich, an wem sich Jethro Tull orientieren. An Cream und an Roland Kirk. Mick Abrahams tobt sich hier auf seiner 9-Saitigen Gitarre aus. Eigentlich 12 Saiten, aber drei davon fehlen und die Band hatte keine Knete, um sich neue zu kaufen. Ian Anderson ist hier GAR nicht zu hören.

A Song For Jeffrey: Kult! Einfach nur Kult! Neben Beggars Farm mein Highlight dieses Albums. Dieser Song ist so cool, dass Chuck Norris sich beim Hören die Ohrmuscheln abfrieren würde. Ein sehr unwiderstehlicher Groove. Flöte, Bass, Slidegitarre, Mundharmonika und ein treibender Rhythmus. Diesen Song haben Jethro Tull im Winter des Jahres 1968 live im Rolling Stones Rock N Roll Circus performed. Mit einem gewissen Tony Iommi an der Gitarre. Gewidtmet ist dieser Song einem gewissen Jeffrey Hammond Hammond. Damals Roadie bei Tull, später Nachfolger von Glenn Cornick am Bass und erstmalig auf der Aqualung zu hören. KULT! 10/10

Round: Schrott. Kurzes Geklimper auf dem Klavier. 2/10

One For John Gee: Eine schnelles, hektisch jazziges Instrumental mit der Querflöte.

Love Story: Einer der ersten Songs, die Tull ohne Mick Abrahams aufgenommen haben. Ein sehr schönes Lied, welches eigentlich GAR keine Blues Anleihen mehr aufweist. Sehr toller, treibender Rhythmus und wundervolle Harmonien. In der Mitte ein kurzes Gitarrenriff. Niemand weiß, wer dieses Riff eingespielt hat. Mick Abrahams war es nicht mehr, Martin Barre kam erst zwei Monate später in die Band. Also bleibt nur Interrims Gitarrist Tony Iommi, bevor er Black Sabbath gegründet hat. Bestätigt hat er das nie, aber auch nie abgestritten. Die Gitarren klingen so fett und groovy in der Mitte: Das kann nur Iommi sein. Ich liebe diesen Song. 10/10

A Christmas Song: Traurig und bewegend. Tull at its Best. Cello-Begleitung im Hintergrund, Mandoline und Akustikgitarre und zum ersten Mal ahnt man, wie toll und warm Ian Andersons Stimme eigentlich ist. Neben Love Story der erste wirkliche Lichtschimmer auf diesem Album, welcher andeutet, in welche Richtung Tull sich in Zukunft bewegen werden.

Zu diesem Album gibt es nicht so viel zu erzählen. Jethro Tull waren Vorband von den Stones und von Jimi Hendrix. Tony Iommi spielte kurz Gitarre (wahrscheinlich bei Love Story und bei der Live Performance von Song For Jeffrey) und eigentlich hat dieses Album rein musikalisch gesehen nichts mit der Band zu tun, die drei Jahre später mit Aqualung die Musikwelt begeisterte.

Ich mag dieses Album nicht so sehr und höre es fast nie. Die besseren Songs dieses Albums findet sich auch auf dem Sampler "Living In The Past" von 1972.

Gesamt: Knappe, sehr knappe 7/10

Da ist noch Luft nach OBEN!

Hier "A Song For Jeffrey" mit Tony Iommi an der Gitarre

Hier die Live-Version von "Dharma For One" vom Isle Of Whight Festival - da hat man aus einem mittelmäßigen Song ALLES rausgeholt, ihn mit Lyrics versehen und zu einer Perle gemacht:
In den Original-Linernotes zu dem Album damals stand:
"this was how we sounded then... but things do change, don't they?"

Somit haben Tull damals schon klar gemacht, dass es nicht beim Blues bleiben würde und dass die stete Veränderung auch steter Begleiter der Band werden würde
Zuletzt geändert von DerMitDemHut am 17.09.2013 01:23, insgesamt 21-mal geändert.
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Iron Maiden Review Thread
Ascorn
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Re: Für kauzige Teetrinker: Der Jethro Tull Reviewthread

Beitrag von Ascorn »

Hmhm, hab ich in der Tat au scho länger nich mehr gehört, werd ich nachher ma wieder nachholen... besonders schön find ich überigens des Cover und die Tatsache, dass es die älteste Platte in meinem Besitz ist :)
DU gehörst auf die Seite der Verlierer, DU bist unterstes Niveau und DU kommst mit Singsang auch nicht weiter!
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DerMitDemHut
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Re: Für kauzige Teetrinker: Der Jethro Tull Reviewthread

Beitrag von DerMitDemHut »

"Stand Up" (1969)



(Click@Cover)

Noch auf ihrem ersten Album "This Was" war die musikalische Ausrichtung der Band auf den Blues und bestenfalls auf den Jazz fixiert und damit recht eingeschränkt. Nachdem für Ian Anderson aber klar wurde, dass er auch andere stilistische Einflüsse in die Musik einfliessen lassen würde, da er als Kind mit Klassik, Jazz, Folk und ethnischer Musik aufgewachsen ist, und der Rest der Band sich bereit erklärte, ihm zu folgen, feuerte man kurzerhand den Gitarristen Mick Abrahams, der lieber beim Blues geblieben wäre und stellte den etwas weltoffeneren Martin Barre ein, welcher Anderson bis zum heutigen Tage treu geblieben ist. STAND UP ist das eigentliche erste Tull-Album, da es mehr als "THIS WAS" die
bandtypischen Markenzeichen enthielt. Für Anderson ist dies DAS
Tull-Album schlechthin, immerhin spielte er hier nicht nur die Querflöte, und dies besser als auf This Was, sondern auch Klavier, Hammondorgel, Balalaika, Mandoline und Akustikgitarre. Gesanglich konnte er sich ebenfalls steigern. STAND UP verschmolz daher alle stilistischen Einflüsse, die durch Andersons Kopf geisterten zu einem innovativen und absolut neuen, dennoch aber verträglichen und soliden Sound und landete kurzerhand auf Platz Eins der Charts in England, während Tull mit Led Zeppelin durch die USA tourte. Absolut unvergessen ist die geniale und einfallsreiche Bach-Adaption BOUREE mit seinem jazzigen Grundgerüst und Glen Cornicks dynamischen Bass-Solo in der Mitte, welches sich hervorragend in den Song einfügt, bevor Anderson seine Seele in die Flöte hineinzupusten scheint. Sehr unterhaltsam, dennoch aber glaube ich, dass der gute J.S. Bach sich im Grabe umdrehen würde, wenn er Tulls BOUREE hören könnte.
Weitere unverzichtbare Songperlen sind... schwer zu sagen...
eigentlich alle. Sowohl die bluesangehauchte Nummer A NEW DAY YESTERDAY als auch die abwechslungsreiche und beschwingte schwere Heavy-Rock-Nummer NOTHING IS EASY, bei dem Clive Bunker die Schlagzeugfelle zu zerreissen droht und Martin Barre fast so spielt, wie später Tony Iommi von Black Sabbath oder Jimmy Page von Led Zeppelin, fordern den Hörer auf, die Lautstärke auf Maximum zu drehen. Dennoch kommt in diesem Song die Flöte nicht zu kurz. Doch auch das fernöstlich folkloristische und lustige FAT MAN und das von Orchester unterlegte REASONS FOR WAITING rechtferigen ebenso einen Kauf des Albums wie die traurige
Folk/Blues-Nummer LOOK INTO THE SUN oder das unbekümmert fröhliche JEFFREY GOES TO LEICESTER SQUARE. Weiterhin sind auch die Bonustracks absolute Hingucker, oder besser gesagt Hinhörer, welche aber mit Ausname von SEVENTEEN schon zuvor auf LIVING IN THE PAST zu finden waren. Das lustige Cover unterstreicht noch einmal den Spassfaktor, der von der Band gross geschrieben wurde und den auch der Hörer dieser Innovation zweifelsohne erfahren wird. Zwar klingt das Album nicht so progressiv und avantgardistisch wie später BENEFIT, THICK AS A BRICK, A PASSION PLAY oder WARCHILD und auch nicht so heavy und bipolar wie AQUALUNG oder MINSTREL IN THE GALLERY, dennoch beschreiten Tull hier neue Wege, was sie nun mit jedem weiteren Album fortan immer tun werden und sie so zu einer der einfallsreichsten und intelligentesten und technisch perfektesten Band des Planeten werden lässt.

Die Einzelbewertung der Songs:

A New Day Yesterday: Hier sind noch gaaanz deutlich die Blues-Wurzeln herauszuhören, die Tull eigentlich ausmerzen wollten, nachdem Mick Abrahams die Band verlassen hat. Dennoch hat dieser Song etwas, woran es allen Songs von der "This Was" mangelte. Tiefgang, Power und Abwechslunsgreichtum. Schleppender Rhythmus, ein sehr schweres Riff, welches auch Black Sabbath gut zu Gesicht gestanden hätte, Martin Lancelot Barre war ein GLÜCKSGRIFF für Anderson und seine musikalische Vision. Ohne Martin Barre hätten sich Tull wahrscheinlich aufgelöst, hier zeigt er, was für ein überwältigender Gitarrist er ist und Ian Anderson traut sich endlich mal, aus dem Schatten seines bisherigen und gefeuerten Konkurrenten Mick Abrahams herauszutreten. Seine Stimme gewinnt an Format. Toller Text, tolle Melodien. 10/10

Jeffrey Goes To Leicester Square: Ein sehr unbekümmertes Lied, sehr lasziv und jugendlich frisch irgendwie. Hat auch was... wie soll ich sagen... "Putziges". Ich mag es. Sehr melodiös und auch abwechslunsgreich. Sehr sanfter, folkiger Anfang, dazwischen immer wieder jazzige rhythmischen Intermezzi. Ian Anderson singt über das Leben und die darin enthaltenen Tücken des Alltags und wieder einmal über den Bandroadie und baldigen Bassisten Jeffrey Hammond Hammond. 9/10

Bourree: Eine phänomenale und in meinen Augen WEGWEISENDE Bach-Adaption. Die Grundmelodie hat Ian Anderson so belassen, wie Klassik Fans sie kannten und kennen, danach improvisiert er mit seiner Querflöte auf Teufel komm raus drauf los und skizziert bizarre Melodiebögen und gibt dabei grunzende Laute von sich. Die Gitarrenbegleitung ist sehr dezent, aber der Bass... DER BASS! Glenn Cornick zeigt hier in einem kurzen, aber sehr coolem Solo, was er drauf hat. Geezer Butler von Black Sabbath hätte das nicht besser hinbekommen können. Bach goes Jazz goes Heavy Rock (der Bass klingt so furchtbar Heavy im Solo, dass man an seiner Stereoanlage den Bass kleiner drehen sollte, da man sonst nur noch Vibrationen spürt und die Melodien nicht mehr nachvollziehen kann) 10/10

Back To The Family: GEIL! Was für Melodien. Ein eher ruhiger Anfang, ebenfalls sehr lasziv und träge. Dazwischen aber immer wieder sehr harte und groovende Riff Einschübe und harte Drumfiguren. Die Strophen sind rhythmisch sehr ungewöhnlich begleitet, wie von einem klackenden Metronom. Hat was Country-haftes (nur in den Strophen!). Das Lied ist cool, es ist groovy, es ist heavy und zugleich ruhig und nachdenklich. 9,5/10

Look Into The Sun: Sehr traurig und rührend. Ein reiner Folk-Song, typisch für Tull. Zum Weinen schöne Melodiebögen und Harmonien. 9/10


Nothing Is Easy: ROCK! HEAVY ROCK! Ich habe diesen Song damals zum ersten Mal auf einem Sampler zu hören bekommen, ehe ich das Album Stand Up kannte. Ich dachte, hey, das könnte auch von Black Sabbath sein, bis auf die Flöte natürlich. Dieser Song rockt wie Sau, ist aber dennoch alles andere als simpel. In vier Minuten wird hier die reinste Prog-Geilerei geboten und eine Menge Abwechslunsgreichtum in ein Heavy-Rock Gewand gepresst. Flötensoli, wilde Drumsynkopen, unfassbar heftige Gitarrensoli und Bassläufe für die Götter. Einfach nur geil. Dieses Lied hat ALLES was Tull ausmacht 12/10!!!

Fat Man: Ein sehr orientalischer Song, wie ein indischer Tempeltanz oder einer der Kiffer-Exkursionen John Lennons. Ich mag dieses Lied sehr, wobei man den Text niemals persönlich nehmen sollte, wenn man etwas beleibter ist. Trifft zwar nicht auf mich zu, aber ich kann Leute durchaus verstehen, die auf dieses Lied etwas empfindlich reagieren. Ian Anderson hat das alles auch mit einem doppelten Augenzwinkern aufgenommen und eingespielt. Sehr ungewöhnlich, aber auch gewöhnungsbedürftig. Ich mag es. 8/10. Sehr cool und lustig

We Used To Know: Ein eher ruhiger Anfang mit der Gitarre, sehr nachdenklicher Text, danach aber eine Explosion der Rockinstrumente wie zuvor auch "Nothing Is Easy". Die Gitarrenriffs- und Soli von Martin Barre sind absolut göttlich, die Flötenmelodien ebenfalls. 10/10 für einen der besten Tull Songs aus der Prä-Aqualung Phase und auch einer der härtesten. Steve Harris schwört auf Jethro Tull und jeder Maiden Fan wird das erkennen, wenn er diesen Song hört. Diese typischen Maiden-Songstrukturen wurzeln in diesem Stück!

Reasons For Waiting: Ebenfalls ein sehr trauriges Folk-Lied, welches "Look Into The Sun" sehr ähnelt. Ich verwechsel die beiden Songs immer :D Sehr melodiös, nachdenklich und von Streichersequenzen begleitet. 9/10

For A Thausand Mothers: Ja, nochmal wird hier die Heavy Rock Keule geschwungen, allerdings auch hier wieder mit sehr jazzigen Rhythmen und weit ausladenden Improvisationen. Dieser Song wurde von Tull immer als Medley zusammen mit "We Used To Know" dargeboten. Teilweise schlagen Anderson und Co hier arg über die Stränge was die prätentiösen Soloeskapaden betrifft. Sehr wild, sehr expressiv. 9/10

Living In The Past: Eine sehr prägnante Bass-Figur und ein eher ungewöhnlicher Rhythmus im 4/4 Takt. Auch hier wieder Gesangsmelodien zum Hinknien und Reinlegen. Göttlich. Die Gitarre spielt hier kaum eine Rolle, wieder dominieren die Flöte und der vorgegebene Takt. Auch hier wieder Begleitung durch ein Streichquartett. 10/10. Ein wundervoller Sonntagnachmittag-Teat Time Song

Driving Song: Leider ein kleiner Rückfall in die doch etwas orientierungslose Blues Phase des Vorgängeralbums. Ein ständig wiederholtes Riff und repetetive Melodiefiguren, die leider stark nerven. 7/10

Sweet Dream: Die große Dramatik! Ein halbes Orchester hat sich Ian Anderson dafür ins Studio geholt, ein mehr als solider Rocksong, göttliche Melodien, ein toller Text, Gitarre und Flöte wohldosiert und genauestens platziert. 10/10

Steve Harris von Iron Maiden nennt dieses Album eines seiner Lieblingsalben. Ian Anderson sagt auch, dass es eines seiner drei besten Alben ist - welches die anderen beiden sind, werdet ihr schon sehen ;) Sehr experimentell und maximal vielseitig. Zurecht stürmte es die Charts und war ein Teil des innovativen Summer Of Love Spirits. Gesamtwertung dieses ersten Bandmeilensteins, auf den noch viele weitere folgen sollten: 9/10
Zuletzt geändert von DerMitDemHut am 08.05.2009 01:49, insgesamt 2-mal geändert.
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Deth
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Re: Für kauzige Teetrinker: Der Jethro Tull Reviewthread

Beitrag von Deth »

Oh das ist wirklich Klasse :) Ich werde mich dann sofort in die beiden Reviews vertiefen und diesen Thread hier sehr aufmerksam verfolgen.
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DerMitDemHut
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Re: Für kauzige Teetrinker: Der Jethro Tull Reviewthread

Beitrag von DerMitDemHut »

Ich freue mich auf Eure Resonanz :)
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Notlage
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Re: Für kauzige Teetrinker: Der Jethro Tull Reviewthread

Beitrag von Notlage »

Das Album brauche ich wahrscheinlich noch... Nothing Is Easy ist in der Tat sehr toll. :)
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DerMitDemHut
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Re: Für kauzige Teetrinker: Der Jethro Tull Reviewthread

Beitrag von DerMitDemHut »

"Benefit" (1970)


Click@Cover

An und für sich ist BENEFIT im Vergleich zu der Mehrheit der Tull-Klassiker wie THICK AS A BRICK oder AQUALUNG ein wenig unscheinbar, stellt dennoch aber eine musikalische Premiere dar, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum Einen wird auf "BENEFIT" zum ersten Mal ausgiebig die Hammondorgel eingesetzt, allerdings noch nicht so verschwenderisch und vordergründig, wie auf den Spätwerken, zum Anderen wendet man sich nach dem musikalisch schon etwas offeneren und innovativeren STAND UP endgültig vom Blues ab und tendiert zu folkigen ProgRock-Klängen.

Die Akustikgitarre klingt hier schon wesentlich dominanter, als auf den Vorgängerwerken. Im Vergleich zu vielen Artrockscheiben ist BENEFIT noch verhältnissmässig zugänglich, songorientiert und leicht verdaulich, dennoch aber nicht oberflächlich oder kommerziell, tendenziell zeichnet sich der Stil ab, den Anderson mit AQUALUNG einschlug.

Hervorzuhebende Songhighlights sind unter anderem die kakophonische Flötenorgie WITH YOU THERE TO HELP ME mit den rasanten Duellen zwischen Martin Barres E-Gitarre und Andersons Vorzugsinstrument (soll heissen: das silberne Pusterohr), das urwüchsige und heavy klingende, NOTHING TO SAY, in welchem die E-Gitarre stark dominiert, das dezent-legere, klavierdominierte ALIVE AND WELL AND LIVING IN, die zauberhafte akustische Ballade
FOR MICHAEL COLLINS, JEFFREY AND ME, der dritte, dem späteren Bassisten Jeffrey Hammond - Hammond gewidmete Tull-Song, das Led Zeppelin und Black Sabbath nicht unähnliche, psychedelisch betäubende TO CRY YOU A SONG, das wundervolle INSIDE, sowie die sehr guten, auf LIVING IN THE PAST auch schon vorhandenen Bonustracks wie WITCHES PROMISES oder SINGING ALL DAY.

BENEFIT ist wohl die luftigste und leichteste ProgRock-Scheibe aller Zeiten, da die Songs noch kurz gehalten sind und nicht so weit ausufern, wie es bei anderen Bands wie u. a. ELP oder GENTLE GIANT der Fall war. Erst auf THICK AS A BRICK komponierte der Flötenderwisch Anderson eine albumlange Suite, welche auf zahlreiche, schon auf BENEFIT vorhandene musikalische Themen zurückgriff - doch dazu später mehr ;)

Neu an Bord ist John Evans an der Hammondorgel und am Klavier. Es ist zugleich das letzte Album mit Glen Cornick am Bass, ehe ihn Bandroadie Jeffrey Hammond auf der Aqualung ablösen sollte.

Die Wertungen der Songs:

With You There To Help Me: Was für ein verschwommener Fiebertraum, was für ein Rausch der Sinne. Sich mehrfach überlappende Flötenmelodien über einfache Klavier- und Akustikgitarren-Akkorde gelegt, immer wieder unterbrochen von heftigen Eruptionen der E-Gitarre/Drums. Der Song ist ziemlich düster, nachdenklich, gar melancholisch. Während der eruptiven Gitarreneinschübe und während des Refrains ist der Song sogar ziemlich heavy. Die Gesangsmelodien sind warm und sanft, erhaben und melancholisch, an der Flöte und an der Gitarre spielen sich Ian Anderson und Martin Barre in einen furiosen Rausch, der nicht enden will und leisten sich wahnwitzige Duelle. Für mich der beste Song des Albums. 10/10

Nothing To Say: Ein militärischer Marschrhythmus der Snaredrum zu beginn, unterlegt von einem prägnanten Gitarrenriff. In den Strophen eher folkig und ähnlich nachdenklich wie beim Song davor, während des Refrains aber sehr heavy, beinahe schon sabbath'esque. Neben dem Opener einer der heftigsten Songs des Albums. Auf die Flöte wird hier verzichtet. Der Song lebt von der Gitarre und von sehr dezenten Pianoakkorden. 10/10

Alive And Well And Living In: Ein eher ruhigerer Song nach den beiden doch schin recht zähen Brocken. Leicht jazzig, klavierbetont und ziemlich intim. Sicher kein absolut bahnbrechender Parforceritt, aber ungemein atmosphärisch. 9/10

Son: Ein Progsong: Sehr heftig zu beginn, akkustisch und minnesängerhaft sanft in der Mitte, heftig am Ende. Immer wieder dominiert durch Hammondorgel und leicht verzerrtem Gesang. Gewöhnungsbedürftig, psychedelisch und experimentell. Deutet ansatzweise das an, was auf Thick As A Brick später folgen würde. Ich komme mit diesem Lied nicht ganz so zurecht. 7/10

For Michael Collins, Jeffrey And Me: Ein ähnliches Lied wie Alive And Well And Living In, jedoch deutlich trauriger und melodramatischer. Akustikbetont und sehr intim. Der Refrain ist allerdings ziemlich hymnenhaft und gefühlsbetont. Michael Collins war der dritte Mann auf dem Mond, der Astronaut der die Mondfähre bewachen musste, als Neill Armstrong und Edwin Aldrin auf unserem Trabanden durch den Staub hüpften, ein vergessener Held. Bei wem es sich um Jeffrey handelt, könnt Ihr Euch inzwischen denken... Ich liebe dieses Lied. 9,5/10

To Cry You A Song: Ein sehr zäher und harter Brocken, betäubend psychedelisch und sehr gitarrenbetont, sich mehrfach überlappende Gitarreneffekte und Hammondorgel. Was mich nervt ist das sehr repetetive Riff, welches ständig wiederholt wird, ebenso wie die Strophen. Tony Iommi und Glenn Hughes haben den mal gecovert. Eigentlich ein tolles Lied aber mit sechs Minuten deutlich zu lang für ein Riff, welches auf Endlosschleife zu laufen scheint. 8/10

A Time For Everything: Ein wundervoller, sehr lyrischer Song, der eng an "For Michael Collins, Jeffrey And Me" und auch "Alive And Well..." anlehnt, allerdings auch mit einigen psychedelischen Klangspielereien und mittelalterlich anmutenden, jedoch modern dargebotenen Melodiebögen aufwarten kann. 9/10

Inside: Ein kleiner Popsong, der keinem schadet. Sehr eingängig, sehr melodiös, aber auch sehr simpel. Ein typischer Sonntag-Nachmittag Kaffee und Kuchen bei den Eltern-Song, wie ich finde. Sehr unscheinbar, sehr... nett. 7,5/10

Play In Time: Wieder so ein durchgeknallter Song aus der Klappsmühle. Elektronisch verzerrte Flötenfanfaren, teilweise recht nerviges Herumfuhrwerken mit Synthesizer und Hammondorgel und einigen Backwards-Effekten, spich rückwärts abgespielt. Sehr anstrengend. Man wollte progressiv sein, aber die ausgefeilten Ideen fehlen hier. 7/10

Sossity, Youre A Women: Wieder ein Song, der akustisch beginnt und recht unscheinbar bleibt. Für mich kein Höhepunkt. 7/10

Singin All Day: So ganz können Tull wohl von ihren Blues-Wurzeln nicht lassen. Ein sehr simpler und leider stinklangweiliger Song, welcher ebenfalls das gleiche Grundriff und auch die gleichen Strophen ewig lange wiederholt, ehe dann in der Mitte ein kleines Flötenintermezzo folgt. 7/10

Witches Promises: Ein wunderschönes Lied. Mehrere, gedoppelte Flötenmelodien, Akustikgitarre und Mellotron - und eine Melodie, welche einem die Tränen in die Augen treibt. Ein reiner Folksong mit tollem Gesang. Ein Kleinod. 9/10

Just Trying To Be: Wieder ein Folksong, allerdings ein sehr sehr sehr sehr kurzer. Ehe Ihr diesen Absatz gelesen habt, ist er vorbei. Dennoch eine sehr schöne Melodie, feines, filigranes Gezupfe an der Akustikgitarre und etwas Glockenspiel. 7,5/10.

Und dann wären wir endlich bei

Teacher: Ein wirklich genialer Song, der in knapp vier Minuten doch recht viel Abwechslung bietet. Sehr schleppender, Gitarrendominierter Beginn, welcher sich jedoch dann in der Mitte steigert. Die Strophen und der Refrain sind GOTT. Die Melodien, die Stimmungen, die Atmosphäre, die Gitarre, die Flöte... Wow! Eigentlich ein recht simpler Song, der jedoch NIE langweilig wird. Sehr scharfsinniger Text über den Alltag mit all seinen Tücken und Ian Andersons Schulvergangenheit. 10/10. Das Riff... Ihr werdet es nicht mehr aus den Ohren bekommen!

Tja, Benefit ist ein Übergangsalbum. Aqualung ich hör Dich tapsen...

Ahja: 9/10


Zuletzt geändert von DerMitDemHut am 08.05.2009 01:15, insgesamt 1-mal geändert.
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Glück auf, Glück auf, der Steiger kommt
Und er hat sein helles Licht bei der Nacht
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Re: Für kauzige Teetrinker: Der Jethro Tull Reviewthread

Beitrag von DerMitDemHut »

Was jetzt kommt, wird sehr sehr schwierig für mich. Das kommende Album kann man nicht mit Punkten bewerten und es steht auch völlig außer Konkurrenz. Ich weiß auch nicht, wie ich es adequat in Worte fassen kann.

Kevsaver ist von diesem Album begeistert, was mich sehr freut. Kevsaver hat auch den Stein des Anstoßes gegeben, diesen Thread aufzumachen und Jethro Tull zu reviewen. Oger hat es unterstützt. Also gut, ich werd dann mal...



AQUALUNG (1971)


Aqualung ist eines der wichtigsten Alben der Rockgeschichte und garantiert eines der zehn Alben, die ich auf die sprichwörtliche einsame Insel mitnehmen würde. Es war mein erster vollständiger Kontakt mit Jethro Tull, nachdem ich vor zehn Jahren durch einen Sampler mit der Band in Kontakt gekommen bin. Ian Anderson jedoch mag dieses Album nicht so sehr. Dabei hat er ein zeitloses Jahrhunderwerk geschaffen, voller wundervoller Gefühle, intimer und nachdenklicher Momente, Kraft und Wut, Trauer und Hoffnung und auch unbekümmerten Humor. Alles vereint auf diesem Album. Den Smash-Hit "Locomotive Breath" kennen garantiert auch viele Menschen, die mit Jethro Tull ansonsten nichts am Hut haben. Der Klang dieses Albums ist sehr - nun wie soll ich sagen - staubig. Altbacken. Grau. Wie aus einer alten miefigen Holzkiste kommend - dennoch sehr transparent und auch druckvoll. Jede Nuance ist deutlich wahrnehmbar. Wie man diese "Staubigkeit" hinbekommen hat, ohne Abstriche hinsichtlich der klanglichen Transparenz zu machen, ist mir ein Rätsel.

Erstmals an Board nachdem Glenn Cornick aus der Band ausgeschieden ist: Der legendäre und bisher schon in drei Songs besungene Bandroadie Jeffrey Hammon-Hammond. Ein wichtiger Faktor im Schaffen der Band und neben Ian Anderson die tragende intellektuelle Säule der Band in den Jahren 1971 bis 1975. Warum Glenn Cornick ausscheiden musste: Zu viele Parties, zu viele Frauen, zu viel Wein... Beim Rest der Band: Zu viel Bücher und Intellekt. Das ging nicht gut.

Ok, fangen wir mal zaghaft an:

Der Titelsong: Was für ein Paukenschlag! Was für ein Jahrhundertriff! Was für ein schleppender, zähflüssiger und dennoch ungemein kraftvoller Beginn! Archaisch, wild, rauh und dennoch voller Anmut. Wie ein kühler, nebelverhangener Novembermorgen in einem Park. Der Song rein musikalisch ein Triptychon: Der wuchtige Anfang mit dem vor Wut und Hass triefenden Gesang, unterlegt vom GOTTRIFF des Meisters Martin Lancelot Barre. Danach ganz plötzlich still, sanft und ruhig, Nur Ians Akustikgitarre, seine näselde Stimme, etwas Klavier, dezente Drums... Eine sehr traurige, melancholische Passage, als wenn man ein altes vergilbtes Schwarz/Weiß Foto anschauen würde. Dann plötzlich ein erneuter Paukenschlag, eine weitere Zäsur im Song: Es wird rockiger, flotter. Ebenso "hart" wie der Anfang, nur nicht so schleppend. Gefolgt von einer Hasstirade Ian Andersons und der Rezitation des ruhigen Mittelteils mit härteren Mitteln. Das Gitarrensolo ist nicht von dieser Welt. Die Breaks auch nicht. Einer der besten Songs aller Zeiten. Abseits jeder Wertung.

Cross Eyed Mary: Adelt es diesen Song, dass Iron Maiden ihn mal gecovert haben? Ein sehr hypnotischer Anfang, leicht eiernde Mellotron-Teppiche und eine fiebrige Flötenmelodie, dazu der Puls des Basses. Das Intro ist erhaben und königlich. Der Song daraufhin nahezu räudig, rauh, aggresiv, wild und für damalige Verhältnisse sehr heavy, an Härte kaum schwächer als Black Sabbath, Led Zeppelin oder Deep Purple. Ein flotter, treibender Song mit wahnwitzigen Flöten und Gitarrensoli. Die lyrischen Klavierakkorde geben diesem Song einen interessanten Kontrast.

Cheap Day Return: Auch wieder ein Song, der kürzer ist, als die Polizei erlaubt. Er ist vorbei, ehe ich diese Zeilen zu Ende geschrieben habe. Aber er berührt mich in meinem tiefsten Inneren. Er hat was sehr persönliches. Was intimes. Akustikgitarre, Oboe, Fagott und Ians Stimme. Wer bei diesem Song nicht anfängt, zu weinen, sollte mal zum Neurologen.

Mother Goose: Herrlich, was für ein wunderschönes, unbekümmertes Lied mit einem ungleich sarkastischen und zynischen Text. Sehr Mittelalterlich wirkt er, wie ein Minnesang. Folkig, altertümlich und dennoch nicht langweilig, man hört einen Chor aus Blockflöten und bei einer Strophe ganz zart im Hintergrund die Stimme Jeffrey Hammons. Am Ende kommen noch ein paar fetzige Gitarrenakkorde hinzu, um diesem Song ein wenig Würze zu verleihen. TOLL!

Wondring Aloud: Eine Ballade? Ja. Seicht? Nein. Gefühlvoll? Und wie! Wieder sehr folkig aufgrund der Akustikgitarre, dann jedoch gesellen sich malerische Klavierakkorde und Streichersequenzen hinzu und verleihen diesem Song eine Schönheit, die weit über die Einfachheit eines Folksongs hinaus geht. Das ist ganz große Singer/Songwriter Kunst! Lauschet und WEINT!

Up To Me: Der Humorpol des Albums: Dominiert auch hier wieder die Akustikgitarre, kann man dennoch kaum von einem Folk Song sprechen. Die Melodien sich frech souverän, beinahe aufmüpfig. Die E-Gitarre spielt nur bei ihren kleineren Solo-Spielereien eine Rolle, ansonsten tragen Klavier und die sechs Saiten der Akustikgitarre gleichberechtigt die Melodie, der Gesang ist lasziv, beinahe hippie'esque. Tribal Drums runden diesen ungewöhnlich spritzigen und leichtfüssigen Song ab

Nun kommt eine gothische Klangkathedrale, über die ich kein Wort verlieren möchte, weil es sie entweihen würde. Zynisch, düster, ja beinahe unheimlich. Lauscht selbst, wenn Ihr wollt:


Hymn 43: Ein Kontrast, der nach diesem schweren, überwältigenden Brocken nötig war. Sehr rockig, groovy, leichtfüssig und frech. Klavier und E-Gitarre dominieren diesen Song, der sehr einfach gehalten ist und stilistisch als Persiflage von Gospelsongs zu betrachten ist.

Slipstream: Öh ja... Akustikgitarre und Geige. Der Song dauert kaum eine Minute. Ziemlich nichtssagend, wenn man den Text nicht verstehen würde. Aber Ian Anderson hat IMMER was von Relevanz zu sagen. Horcht seiner zarten Stimme!

Locomotive Breath: Ja, ein Partyhit? Auf diesem Album? Ist denn schon Weihnachten? Was Paranoid für Black Sabbath oder Smoke On The Water für Deep Purple sind, ist dieser Song für Jethro Tull. Ihr bekanntester, ihr partytauglichster, ihr tanzbarster. Dennoch liebe ich dieses Lied aufgrund des bissig vorgetragenen Textes, aufgrund des sehr klassizistisch und danach leicht jazzigen Klavierintros, aufgrund des unwiderstehlichen Beats, des stampfenden Grooves, aufgrund der nie wieder aus den Ohren zu gehenden Hookline. Der Song hat Stil. Von allen abgenudelten Rockklassikern der einzig brauchbare und wichtige.

Wind Up: Ein ambivalenter Song. Still und akustisch beginnend, weinerlich trägt Ian Anderson seinen Hass auf die Kirche vor, begleitet nur vom Klavier. Dann plötzlich rockt der Song in er Mitte wie Sau, wenn man es nicht erwarten würde ud der Rest der Band pöbelt wie ein Mob im Hintergrund rum, ehe der Song sich wieder fängt und das Intro rezitiert wird.

Wovon handelt Aqualung? Es ist Ian Andersons Abrechnung mit der Bigotterie der Gesellschaft, seine Anklage an den Konformismus und die Ausgrenzung der Andersartigen, seine Anklage an die Kirche. Glauben an Gott? Ja sicher! Warum nicht? Kirche? Braucht kein Schwein, alles nur fiese und gierige Heuchler. So ungefähr kann man das zusammenfassen!

Das Cover und die nach Ian Andersons Gusto veränderte Bibelpassage im Albuminneren tuen ihr übriges. Das Album hat die Rockmusik unter Intellektuellen salonfähig gemacht. Ian Anderson ist der Professor unter den Rockmusikern, Jethro Tull sind die Universität, wo Bands wie Black Sabbath und Led Zeppelin textlich höchstens Hauptschule sind.
Zuletzt geändert von DerMitDemHut am 08.05.2009 01:12, insgesamt 2-mal geändert.
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Re: Für kauzige Teetrinker: Der Jethro Tull Reviewthread

Beitrag von Notlage »

Du hast es aber eilig.
Aqualung ist natuerlich groß. Das ist eines der ersten Rockalben, die ich gehoert habe.
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Re: Für kauzige Teetrinker: Der Jethro Tull Reviewthread

Beitrag von DerMitDemHut »

Die Eile ist begründet ;) Ich habe nur heute und Morgen ausreichend Zeit und dann fast den ganzen Mai über nur noch sporadisch. Daher habe ich die ersten vier Alben im Schnelldurchgang reviewt. Nun mache ich erstmal Pause und lasse die Reviews auf Euch wirken.

Das Album Thick As A Brick kommt dann vielleicht morgen ;)
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Re: Für kauzige Teetrinker: Der Jethro Tull Reviewthread

Beitrag von Apparition »

Heute Abend läuft mal wieder Aqualung. Ich werde den Thread gespannt verfolgen, denn Tull interressieren mich sehr. Leider kenne ich bisher nur Aqualung und Bursting Out.
That is delightful news for someone who cares.
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Re: Für kauzige Teetrinker: Der Jethro Tull Reviewthread

Beitrag von DerMitDemHut »

Apparition hat geschrieben:Heute Abend läuft mal wieder Aqualung. Ich werde den Thread gespannt verfolgen, denn Tull interressieren mich sehr. Leider kenne ich bisher nur Aqualung und Bursting Out.

Vielleicht ist dieser Thread wie auch für Kevsaver eine Art Anreiz für Dich, Dich über Aqualung hinaus mit der Band zu beschäftigen. Als ich die Aqualung hatte, dauerte es geschlagen ein Jahr, ehe ich mich auch mit dem Rest der Diskografie vertraut gemacht habe. Dann ging es aber sehr schnell :D
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Re: Für kauzige Teetrinker: Der Jethro Tull Reviewthread

Beitrag von oger »

*Freu @ Thread* :)

Aber mach mal ein bisschen langsamer, muss erstmal lesen.
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Re: Für kauzige Teetrinker: Der Jethro Tull Reviewthread

Beitrag von DerMitDemHut »

oger hat geschrieben:*Freu @ Thread* :)

Aber mach mal ein bisschen langsamer, muss erstmal lesen.
Ich mach jetzt auch erstmal Pause und geh in den Garten zum Grillen :) Die nächste Review, "Thick As A Brick" kommt frühestens Sonntag. Viel Spass beim schmökern ;)
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Re: Für kauzige Teetrinker: Der Jethro Tull Reviewthread

Beitrag von kevsauer1 »

Yeah cool du hast das ja wirklich gemacht!! :D

Ich hab grade leider keine Zeit zum lesen aber spätestens Morgen werd ich die Reviews mal in ruhe lesen.


*DemMitDemHut einen ausgeb*
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