Du wirfst da aus meiner Sicht ziemlich viele Sachen durcheinander. Ganz allgemein ist die EU nach wie vor ein Staatenbund und kein Bundesstaat. Mit all den Problemen, die das mit sich bringt. An der Parlamentswahl ist einiges kritisch, allen voran die Punkte, dass das keine einheitliche Wahl mit transnationalen Listen und "one man - one vote" ist, sondern lauter einzelne Wahlen in den Mitgliedsstaaten mit eigenen Regeln, eigenen Listen und Kontingenten im Parlament, die die Kräfte anders abbilden als die Bevölkerung - wofür es aber andererseits auch wieder gute Gründe gibt. Eben weil es ein Verbund aus einzelnen Staaten ist und kein Bundesstaat.borsti hat geschrieben:Der ganze Fall zeigt, dass die demokratische Emanzipation Europas keinen Schritt vorangekommen ist. Politiker und Parteien, die bei der Europawahl teilweise krachend gescheitert sind, bestimmen jetzt trotzdem nach ihrem Gusto den Kurs der Europapolitik. Das mag rein juristisch alles wasserdicht sein aber es ist trotzdem ein Schlag ins Gesicht derer, die geglaubt haben, diese Europawahl würde tatsächlich etwas ändern.
Es stimmt, dass Spitzenkandidaten nicht automatisch Kommissionspräsidenten, Ministerpräsidenten oder Bundeskanzler werden müssen - aber warum führt man dann überhaupt mit ihnen Wahlkampf? Ja, auch die Kandidaten stehen für etwas, dass die Wähler bei ihrer Wahlentscheidung teils massiv beeinflusst. Sie schüren Hoffnungen oder Ängste vor Politikänderungen oder-Stagnation. Wenn dann die erste Handlung nach einer Wahl ist, das für obsolet zu erklären, weil "sorry, wir konnten die Hampelmänner eigentlich von vorn herein nicht leiden und haben es dem Wahlvolk nur vorgegaukelt", dann führt man damit den kompletten Wahlkampf ad absurdum.
Wie sollen sich die Europäer jemals mit europäischer Politik identifizieren, wenn es anscheinend nicht mal im Ansatz so etwas wie Identifikationsfiguren auf europäischer Ebene geben darf, an denen man sich orientieren kann? Wenn das Personal, das zur Wahl antreten darf, hinterher wieder an die Leine gelegt und von den Mutterparteien auf irgendeinen Gnadenposten abgeschoben wird? Oder rechnet jemand damit, dass sich in vier Jahren noch irgendwer an Weber und Timmermanns erinnert?
Stattdessen entscheiden Typen wie Macron, der von seinen Landsleuten bei dieser Europawahl eigentlich eine schallende Ohrfeige erhalten hat und allein aus Anstand die Schnauze halten sollte, wer genehm ist und wer nicht. Und wen bekommen wir jetzt? Eine Wiedergängerin! Eine politische Leiche! Eine Frau, die gerade nicht für Aufbruch und Erneuerung steht, die seit 2005 im politisch abgewirtschafteten Kabinett Merkel sitzt, dessen sogenannte "Große Koalition" bei dieser Euopawahl im eigenen Land eindeutig abgewählt wurde.
Redet euch die Scheiße ruhig schön. Ich kann es nicht.
Im Kern müssen sich auf die wesentlichen Dinge nach wie vor die Mitgliedsstaaten einigen. Und zwar deren Regierungen, die auch wieder demokratisch legitimiert sind (und das auch besser als sämtliche EU-Institutionen, das Parlament eingeschlossen). Das ist kein einfacher Prozess, heutzutage noch weniger als in der Vergangenheit. Aber hin wie her, es waren IMMER die Staats- und Regierungschefs, die sich auf die Mitglieder und den Präsidenten der Kommission verständigt haben (und verständigen mussten). Das Parlament kann hier dagegenhalten und hat auch schon durchgesetzt, dass einzelne Kandidaten nicht in die Kommission gekommen sind. Aber trotzdem entscheiden das im Kern die Regierungen und nicht die EU (und auch nicht die Wähler). Man kann das anders organisieren, aber dann müsste man schon deutlich mehr ändern, nicht zuletzt die Verträge und Zuständigkeiten der Institutionen. Das sehe ich in naher Zukunft eher nicht.
Aber in diesem konkreten Fall - du denkst wirklich, dass die Mehrheit der Europäer da jetzt Weber gewählt hat und deswegen frustiert ist, weil jetzt nicht der kommt, sondern (vielleicht) von der Leyen? Ernsthaft? Wie viele Menschen außerhalb Deutschlands kennen Weber überhaupt? Den kennen ja noch nicht mal die meisten in Deutschland. Meine Vermutung wäre ja, dass die allermeisten eher frustriert sind, dass das höchste Amt in der EU mit einem Deutschen besetzt wird (egal, mit welchem), wo Merkel doch vermeintlich eh schon alles diktiert. Aber das ist nur eine Vermutung.
"Typen wie Macron" sind - Ergebnisse hin oder her - immer noch Staatschefs. Der werden (und sollen) in so einem Prozess nicht die Schnauze halten, sondern müssen ihn gestalten. Die verhandeln auch nicht aus Spaß über Tage hinweg. Die Idee, dass es Macron oder den osteuropäischen Staaten darum gehen würde, eine abgehalfterte deutsche Politikern auf einen Rentenposten zu schieben, halte ich da schon für ziemlich absurd. Und auch ein wenig anmaßend. Es geht hier um deutlich mehr als um deutsche Innenpolitik. Die ist nicht der Nabel Europas, auch wenn ein mancher das gern hätte.
(Ganz nebenbei halte ich von der Leyen auch für eine gruslige Wahl. Meine Begeisterung über Weber hat sich davor aber auch in überschaubaren Grenzen gehalten. Ich hatte aber weit mehr Probleme mit dem Geschacher um die Posten im Vorfeld als jetzt mit diesem Prozess. Dass Weber keinen Wahlkampf fürs Parlament gemacht hat, sondern für seinen Kommissions-Posten - DAS finde ich weit problematischer und undemokratischer als das, was wir gerade sehen.)