Beidlman hat geschrieben:
Ich fand die Band schon immer großartig, aber momentan bin ich extremst süchtig nach den Kanadiern.
Wie geil bitte ist das Gitarrenspiel von Pete Lesperance????
Sehr. Lesperance ist absolut fantastisch, äußerst geschmackvoll, songdienlich und dennoch virtuos. Ich habe ihn mal tiefstapeln hören, er sei auch früher nie so fix wie Vai oder Satriani gewesen - mag sein, daß Lesperance nie Technik gebolzt hat, aber er ist ein unfaßbar präziser Musiker, und zwar auch in den schnellsten Passagen, wer ihn live gehört hat, weiß, was ich meine. Lesperance ist imo als willkommenes Gegengewicht auch dafür verantwortlich, daß HS nicht voll ins Harry-Hess-Fahrwasser abdriften, denn der Ausnahme-Sänger hat schon ein fatales Faible für schlagernahe Schmachtfetzen (vergl. seine Solo-Projekte).
Und auch "United" trägt in weiten Teilen die Züge des Songwriters Harry Hess. Irgendwie habe ich immer den Eindruck, der großartige Mann sieht jedesmal, wenn er vor seinem weißen Blatt sitzt und einen neuen Song schreiben möchte, diese 40-jährige Blondine, die einsam auf der Kirmes steht, inmitten fröhlicher, lärmender Menschenmassen, und dann kommt Harry Hess und hängt ihr ein Lebkuchenherz um den Hals (mit seinem Song).
In den schlimmeren Momenten ("Gravity", "The sky is falling") geht das schon fatal in Richtung Bierzelt, auch die billige Stampfbassdrum von Creighton Doane trägt dazu bei, daß zumindest ich erstmal schlucken mußte und mich auf die unzähligen schönen Aspekte jedes Songs konzentrieren.
Mittlerweile habe ich das Album aber wahsinnig ins Herz geschlossen und mir ist auch schnurz, ob da manchmal die Gefühlsseligkeit aus den Lautsprechern trieft: Das sind Harem Scarem, Mann, die Band mit dem besten Sänger aller Zeiten im Rock-Bereich und den besten Vokal-Arrangements ever und mit einem total eigenständigen Groove (wozu übrigens auch der famose neue Bassist Stan Miczek beiträgt).
Harem Sacrem werden bei mir immer eine wild card haben, sie haben mir soviele fröhliche Stunden beschert, da fallen ein paar schwache Platten (Rubber-Ära, "Overload", "Human Nature", "Hope") echt nicht ins Gewicht. Keine andere Band hat mir soviel gute Laune bereitet, keine andere werde ich so wenig leid wie Harem Scarem.
"United" fällt in die obere Hälfte ihrer Veröffentlichungen, was eine große Auszeichnung ist. Ich kann mich User acore nur anschließen, die Trias der übermäßig überirdischen Überalben besteht eindeutig aus "Mood Swings" (1993), "Voice Of Reason" (1995) und "Weight Of The World" (2002).
"Voice Of Reason" ist das progressivste Album der Band, hier scheinen sie die genialsten und teilweise abgefahrendsten Ideen hineingesteckt zu haben. HS waren wohl nie wieder so unbekümmert um Breitenwirkung wie bei dieser Platte. Deswegen spaltet sie die Gemeinde wohl auch. Grunge-Einflüsse kann ich allerdings weniger erkennen, ich finde, das ist immer so ein naheliegendes Schlagwort bei Alben, die Mitte der 90er von ansonsten etwas anders ausgerichteten Bands gemacht wurden. Manchmal trifft es zu (wie bei Rushs "Counterparts"), manchmal nicht, wie bei "Waiting For The Punchline" von Extreme oder meiner Meinung nach im Fall von "Voice Of Reason".
Ich höre bei diesem Album eine düsterere Atmosphäre, ja, aber nur wegen der vielen Chromatik (also den Sekundschritten), keineswegs höre ich diese lässige Wegwerfgeste, die den Grunge ausgezeichnet hat. Im Gegenteil, "Voice Of Reason" ist ein detailliert durchkonzipiertes Werk, ein phantasievoll zusammengeschustertes Monster, was mehrmaliges Hören voraussetzt. Um nur ein winziges Beispiel anzuführen, die Zeile "lust fucked off and", die den Song "Warming a frozen rose" einleitet und später erst in einem verstehbaren Kontext wiederauftaucht.
Überhaupt sind die lyrics dieser Scheibe das mit Abstand Beste, was Hess jemals geschrieben hat - wenn auch etwas misogyn im Gesamtbild
. Im eben genannten Song zum Beispiel: "monochrome memories / colourless melodies" oder im Song "Blue": "I want another life / that comes with a guarantee". Das ist schon was anderes als der ewige "rollercoaster of life", der in den Schlagermomenten bei Hess auftaucht. Oder auch "following tormented youth", eine Zeile, die im Song "Breathing sand" zu finden ist. Die ganze "Voice Of Reason" ist rappelvoll mit erstklassigen Ausnahmetexten. Ich bin wirklich untröstlich, daß die Band diese Linie nie wieder in gleichem Maße verfolgt hat.
Und weil mir jetzt so wehmütig zumute ist, werde ich mal "Let it go" von diesem Album hören, einen der schönsten Songs, die je geschrieben wurden.