VAPOR TRAILS (2002)
1. One Little Victory (5:09)
2. Ceiling Unlimited (5:27)
3. Ghost Rider (5:40)
4. Peaceable Kingdom (5:22)
5. The Stars Look Down (4:28)
6. How It Is (4:05)
7. Vapor Trail (4:57)
8. Secret Touch (6:34)
9. Earthshine (5:37)
10. Sweet Miracle (3:40)
11. Nocturne (4:48)
12. Freeze (Part IV of „Fear“) (6:20)
13. Out of the Cradle (5:02)
TOTAL PLAYING TIME: 67:09
Cover Vapor Trails
Cover Vapor Trails Remixed
Nicht ganz ein Jahr ist vergangen seit meinem letzten Review hier zu „Test for Echo“. Da kann man mal sehen, was für ein Method Reviewer ich bin, denn das war natürlich nur, weil ich damit die lange Pause abbilden wollte, die zwischen eben „Test for Echo“ und dem siebzehnten Album, getauft auf den Namen „Vapor Trails“ lag *g*. Mit sechs Jahren ist dies die längste Pause, die je zwei Rush-Studiowerke voneinander trennte.
Der Grund für diese Pause war bekanntlich allerdings weniger lustig. Im August 1997 starb Neil Pearts Tochter Selena im Alter von 19 Jahren bei einem Autounfall. Nicht einmal ein Jahr später, im Juni 1998, starb zudem seine Frau Jackie an Krebs. Neil selber hat den Tod seiner Frau als „slow suicide by apathy“ beschrieben, „she just didn‘t care“. In seinem Buch „Ghost Rider“ geht er recht genau darauf ein, dass er der Meinung ist, dass seine Frau nach dem Tod der Tochter aufgegeben hatte und schlicht keine Kraft oder Willen zu kämpfen hatte.
Vollkommen logisch, dass Rush nun komplett auf Eis lagen und einfach überhaupt keine Rolle mehr spielten. Es war unsicher, ob die Band jemals wieder zueinander finden würde, und es war letztlich eben auch komplett egal. Peart begab sich auf eine insgesamt 88.000 Kilometer lange Motorradfahrt durch den amerikanischen Kontinent. Er war mehrere Monate unterwegs, meldete sich ab und an per Postkarte bei Bandkollegen oder Freunden, aber im Grunde wusste niemand so richtig, wo er jeweils gerade war. Nach dieser Reise, die er später in dem lesenswerten Buch „Ghost Rider: Travels on the Healing Road“ beschrieb, kehrte Peart zurück und war bereit, weiterzumachen.
Geddy Lee hatte inzwischen sein erstes (und bis heute einziges) Soloalbum „My Favourite Headache“ (2000) aufgenommen und veröffentlicht. Im Zuge der Interviews zu diesem Album sagte er bereits, dass Rush Anfang 2001 wieder zusammentreffen würden, um Material für ein neues Album zu schreiben und aufzunehmen.
Die ersten drei Wochen im Studio wurde nur geredet und man prüfte, ob man überhaupt bereit wäre für ein neues Album und alles, was damit zusammenhängt. Auch über die musikalische Ausrichtung herrschte wohl keine besonders große Einigkeit.
Letztlich fußten die meisten Songideen zunächst auf Jams, die Lee und Lifeson zusammen im Studio mit einem Drumcomputer aufnahmen, während Peart irgendwo anders an den Texten arbeitete. So entwickelten sich die Songs aus Jams, langsam und natürlich, zudem versuchte man, möglichst viel Material aus dieses Jams tatsächlich in das Album einzubauen, anstatt alles neu aufzunehmen.
Das klappte allerdings wohl nur so halb: Nachdem Peart bereits sechs Texte fertig hatte, stand musikalisch noch kein einziger Song. Statt ihre Ideen richtig auszuarbeiten, nahmen Lifeson und Lee immer noch mehr Jams auf und gaben ihrem Drummer zudem keinerlei Feedback zu dessen bisherigen Texten. Peart stoppte daraufhin erst einmal das Verfassen von Lyrics und fokussierte sich auf sein Buch, die Arbeiten an „Vapor Trails“ wurden unterbrochen und erst nach einigen Wochen wieder aufgenommen. Nun stimmte die Chemie und man war in der Lage, richtige Songs und nicht bloß Fragmente zu schreiben. Aus den ersten Sessions entstanden die Songs „Ceiling Unlimited“, „Peaceable Kingdom“ und „Nocturne“, aber laut Lifeson sind in allen Stücken auf „Vapor Trails“ zumindest Fragmente dieser ersten Jam Sessions enthalten, kein Song wurde vollständig neu aufgenommen.
„Vapor Trails“ ist das erste Rush-Album seit „Caress of Steel“, auf dem keine Keyboards zu hören sind. Auch Lifeson verzichtete auf Experimente und Soundspielereien zugunsten eines roheren, härteren und basischeren Sounds, Neil Peart orientierte sich für „Vapor Trails“ am Spiel von The Who‘s Keith Moon.
Die eigentlichen Albumaufnahmen starteten dann im August 2001. Ursprünglich war der Plan, nur 10 oder 11 der neuen Songs auf die Platte zu packen, letztlich entschied man sich aber dagegen und veröffentlichte alle. So entstand das längste aller Rush-Studio-Alben.
Produzent Paul Northfield hatte in der Vergangenheit schon an diversen Rush-Alben mitgearbeitet, zuletzt an „Grace Under Pressure“ (1984), bzw. „Different Stages“ (1998), wenn man Live-Alben mitzählt.
Aufgrund seiner extremen Lautstärke und Undifferentziertheit beim Sound („Loudness War“) erhielt „Vapor Trails“ nicht nur positive Kritiken. Beim Mastern hatte man es hier echt übertrieben, es fehlte die Dynamik, dafür krachte und zischte es an allen Ecken und Enden. Auf der anderen Seite drückt „Vapor Trails“ aber dafür auch wie kein anderes Album der Band.
Im Jahr 2009 erschienen auf einer Best Of-CD zwei „Vapor Trails“-Stücke in remixter Form, nämlich „One Little Victory“ und „Earthshine“. Aufgrund der positiven Resonanzen und der mittlerweile vorhandenen Unzufriedenheit der Band selbst mit dem Sound von „Vapor Trails“, wurde 2013 dann das komplette Album noch einmal remixt und als „Vapor Trails Remixed“ mit leicht verändertem Cover-Artwork noch einmal veröffentlicht. Den Remix übernahm David Bottrill, den man unter anderem für seine Arbeiten mit Bands wie Tool, den Smashing Pumpkins, Godsmack oder Muse kannte.
Welche Version jetzt besser ist, da streiten die Gelehrten. Ich persönlich musste mich an den Remix etwas gewöhnen, höre seit dem aber ausschließlich diesen.
Man sieht, „Vapor Trails“ war alles andere als eine leichte Geburt. Gemessen an den Vorzeichen ist das Album unfassbar gut. Knapp (allerdings sehr knapp) vor „Clockwork Angels“ ist es meiner Meinung nach das beste Album, das die Band ab 1989 („Presto“) bis zu ihrem Ende aufgenommen hat. Kommen wir zu den Songs:
One Little Victory
Wie sollte ein Rush-Album mit der oben beschriebenen Geschichte anders losgehen als mit einem zünftigen Neil Peart-Schlagzeug-Intro? Genau. Sobald Lee und Lifeson einsteigen, fällt der sehr basische und zudem sehr harte Klang auf, so geballert haben Rush davor und danach nie wieder. Was ebenfalls auffällt, ist die positive Aufbruchstimmung von „One Little Victory“. Man merkt musikalisch und auch textlich, dass hier eine Talsohle durchschritten wurde und man sich nun endlich wieder auf dem aufsteigenden Ast befindet. Gemessen an der Verkrampftheit, mit der die drei zunächst im Studio agierten, klingt das Lied (wie auch das ganze Album selber, aber bei dem Song ist es meiner Meinung nach extrem) zudem sehr gelöst und befreit. Man hatte ein neues Kapitel aufgeschlagen und griff wieder an, man war wieder da. Das hört man. „One Little Victory“ ist schnell, hart, druckvoll und selbstverständlich mit diversen Ohrwurmmelodien ausgestattet. Der Text über das Leben im Moment, das sich an den eigenen Haaren aus der Scheiße ziehen und das schrittweise herauskommen aus einer Krise ist zudem natürlich mit der Kenntnis von Pearts Vorgeschichte umso beeindruckender.
Ceiling Unlimited
Auch „Celing Unlimited“ geht gut nach vorne, haut aber nicht alles dermaßen um wie der Opener, sondern ist ein bisschen feinsinniger und weniger ungestüm, sozusagen Band-typischer. Gerade solchen Stücken hat der Remix aus meiner Sicht unglaublich gut getan, sie klingen nun deutlich offener und differenzierter, weniger rabaukig und kopflos. Durchdachter.
Es fällt auf „Vapor Trails“ immer wieder die positive Aufbruchsstimmung auf, die Rush hinbekommen, obwohl das Album erstens für ihre Verhältnisse sehr hart und rockig und zweitens auch einigermaßen düster ist. Es geht hier ja nicht die Sonne auf wie zum Beispiel in den Refrains von „The Analog Kid“, „Marathon“ oder „Red Tide“. Viel mehr wirken Songs wie dieser auf mich so unendlich befreit und gelöst, weil sie es vermutlich einfach wirklich sind. In der zweiten Hälfte von „Ceiling Unlimited“ hat man manchmal fast den Eindruck, das Lied will der Band abhauen, so befreit spielen sie auf. Sei es Alex‘ kurzes Solo oder sei es das pumpende Bassgewummer, das Geddy untendrunter legt. Jetzt erst recht. Ganz großes Kino.
Ghost Rider
Wenn ich das aus dem gleichnamigen Buch über Neils Motorradreise noch richtig in Erinnerung habe, so ist „Ghost Rider“ eigentlich die Bezeichnung für eine bestimmte Wolkenformation, die besonders in gebirgigen Gegenden vorkommen kann und Google scheint mir da Recht zu geben.
Klick für „Ghost Rider Cloud Formation“ Bild
Während seiner Tour übernahm Peart diese Bezeichnung aber mehr und mehr für sich selbst, der rastlose Ghost Rider, der mit seinem Motorrad durchs Land fährt, die Geister der Vergangenheit sitzen auf dem Soziussitz, obwohl er sie eigentlich hinter sich lassen will.
“Show me beauty, but there is no peace for the ghost rider.“
Das Lied ist natürlich ein sehr zentrales auf dem Album. Musikalisch ist es deutlich entspannter und zurückgelehnter als die ersten beiden. Es klingt zudem unendlich cool und fast unverschämt lässig. Wie die drei hier zusammenspielen, mit welcher Lässigkeit und Überlegenheit sie dieses Lied aufbauen, es von der bassdominierten Mitnicknummer mehr und mehr zu einem fordernden, treibenden Rocksong werden lassen, ist absolut beeindruckend. Auch ohne den textlichen Hintergrund ist es einfach auch ein schönes Lied über das Unterwegs-Sein, das auch dieses Gefühl zu irgendetwas unterwegs zu sein, das man vielleicht nicht richtig einordnen kann, das aber eher gut als schlecht ist, perfekt einfängt. Unter Umständen das beste Lied auf „Vapor Trails“. Es gibt viele tolle und grandiose Songs, aber „Ghost Rider“ packt mich irgendwie immer noch ein kleines bisschen mehr.
“Shadows on the road behind, shadows on the road ahead. Nothing can stop you now.“
Peaceable Kingdom
„Peaceable Kingdom“ nimmt das Tempo noch weiter raus, legt dafür aber wieder ein paar mächtige Brickets nach, was das Härte-Level angeht, zumindest in den Strophen. Der Chorus ist eher akustisch und ruhig gehalten, während in den Strophen ordentlich gebraten wird. Der Song ist zudem reichlich sperrig und geht nicht besonders gut ins Ohr. Lustigerweise denke ich in der Rückschau, das „Peaceable Kingdom“ ein wenig wie ein Vorbote von „Armor and Sword“ und „Workin‘ them Angels“ vom nächsten Album klingt, nur in weniger ausgearbeitet und rauer. Zu dem Eindruck des eher unausgearbeiteten passt auch die Tatsache, dass der Song zu jenen gehört, die aus den ersten Jam Sessions von Alex und Geddy entstanden. Richtig warm werde ich mit dem Lied bis heute nicht. Es ist gut, aber irgendwie springt der im Text erwähnte Funke auf mich nicht über. Apropos Text, auch der fällt etwas dunkler aus, wenn ich es richtig deute, geht es um den Wunsch nach Ruhe und dem Aussperren aller äußeren Einflüsse, die ohne Unterbrechung auf einen einprasseln. Ich kann es so gut verstehen. Trotzdem kein Highlight, das Lied, also musikalisch.
The Stars Look Down
“Like the rat in the maze who says ‚Watch me choose my own direction‘, are you under the illusion the path is winding your way?“
Ich glaube, dass es in „The Stars Look Down“ am ehesten darum geht, wie völlig egal das eigene Abstrampeln und Rumwurschteln eines jeden durchs Leben so ist, gemessen an der Tatsache, dass die Sterne am Nachthimmel immer noch genau so aussehen werden, wenn man selber nebst der restlichen Menschheit schon lange nicht mehr existiert. „The Stars Look Down“ fasst die bisherigen vier Songs irgendwie in einem zusammen, rockige, schnelle Strophen, die trotz des Inhalts durchaus Aufbruchsstimmung vermitteln und ein Chorus, der das Tempo rausnimmt, entspannt wirkt und auffordert, das alles und sich selber vielleicht mal nicht so wichtig zu nehmen. Wie Rush hier aus dem beschaulichen Chorus wieder in die treibenden Strophen resp. den Instrumentalteil nach dem zweiten Refrain wechseln, ist schon wieder komplett unverschämt. Wie überlegen kann man sein? Großartiger Song, der irgendwie immer ein wenig untergeht.
How It Is
„How It Is“ ist der Geheimfavorit von „Vapor Trails“, der fast unscheinbare Song, der aber in Wahrheit fast alle anderen irgendwie überholt und sich an die Spitze setzt. Der Mutmach-Text gehört zu den schönsten auf dem Album. Zusammenfassend kann man wohl sagen, dass es darum geht, dass jeder solche Momente und Tage hat, in denen einfach alles falsch ist, an denen die Lücke zwischen „how it is“ and „how it‘s ought to be“ unüberwindbar zu sein scheint. Und obowhl es am Ende mit
“You can‘t tell yourself not to care, you can‘t tell yourself how to feel“ zumindest eine kleine Durchhalteparole gibt, verzichtet das Lied im Gegensatz zu den meisten anderen dieser Art auf das „Das wird schon wieder“ und „Morgen sieht die Welt ganz anders aus“.
“Another cloudy day.“ lauten im Gegenteil die letzten Wörter des Textes. Darum liegt der Text mir auch deutlich näher als anderes, was in der Richtung so rauskommt. Denn die Aussicht, dass es irgendwann wieder besser wird, was man ja eh weiß, bringt einem in dem Moment halt einfach überhaupt nichts. Musikalisch ist das Lied eher leichtfüßig unterwegs, wirkt kontrastierend zum Text eher unbeschwert, eigentlich ist „How It Is“ der poppigste Song auf diesem Album und hätte fast auf „Counterparts“ stehen können. Wunderschöne Gesangsmelodien, besonders im Refrain, eine irgendwie beruhigende Wirkung, „uplifting“, wie der Engländer sagt. Vielleicht ist doch das mein Lieblingssong des Albums und nicht „Ghost Rider“. Eventuell ist es aber auch der, der jetzt kommt *lol*
Vapor Trail
Der Quasi-Titelsong beginnt auch eher poppig mit einer sanften Gitarrenmelodie, und trotz der dann einsetzenden pumpenden Basstöne bleibt das Lied zunächst eher sanft und ruhig.Und auch wenn es später rockiger wird (und bei der
“Horizon to horizon...“-Passage von unglaublich geilen Drum-Läufen Pearts unterfüttert wird, die mich ziemlich an Danny Carey erinnern), so bleibt „Vapor Trail“ irgendwie die ganze Zeit über eher reserviert und zurückhaltend, ohne dass es aber nach angezogener Handbremse klingt. Das Solo von Alex ist super, hier arbeitet er mit Hall und gibt dem ohnehin sehr räumlich wirkenden Song noch viel mehr Tiefe und Dimension. Durch dieses fast tribal-artige Drumming wirkt „Vapor Trail“ auf mich manchmal beinahe wie eine Coverversion, also so, als sei der Song gar nicht von Rush. Völlig grandiose, irgendwie ungewöhnliche Nummer und zusammen mit „Ghost Rider“ und „How It Is“ der beste Song des Albums *lol*
Secret Touch
„Secret Touch“ eröffnet in gewisser Weise die zweite Hälfte (bei 13 Songs gibt’s in dem Sinne ja keine „zweite Hälfte“) des Albums, hat irgendwie tatsächlich auch Opener-Qualitäten und -merkmale. Nach hypnotischem, sanften und leicht orientalisch angehauchten Intro donnern Rush los, dass es selbst für dieses Album noch einmal aufhorchen lässt, ein amtliches Break-Gewitter. Ähnlich ungestüm wie bei „One Little Victory“, den Song dabei mehr kontrollierend preschen sie vor, herausragend hier vor allem Geddys Bassspiel. Das gilt besonders für die zweite Hälfte, in der Rush und speziell Geddy sich in einen wahren Rausch spielen, die Bass-Saiten klingen, als wären sie 3cm dick, es wabert, wummert und pumpt ohne Ende. Laut Wikipedia wurde bei „Secret Touch“ ein Extra-Mikro benutzt, das nur das Geräusch von Geddys Fingern auf den Saiten abnahm, und das man dann im Mix hinzufügte. Geddy dazu:
So we put up a mike and recorded the sound of my fingers while we were laying down the parts, and we used it subtly in the mix. I don't know how much of it survived under all the guitars, but it's there."
„Secret Touch“ ist vor allem live immer eine völlige Sternstunde gewesen, neben dem instrumentalen Wahnsinn überzeugt der Song aber auch wieder mit eingängigen und tollen Gesangsmelodien und dieses hypnotische, fast psychedelische Element, das ihn durchzieht, steht der Band außerordentlich gut zu Gesicht.
Earthshine
„Earthshine“ oder „Planet Shine“ bezeichnet von der Erde ins All reflektiertes Sonnenlicht, das auch den Mond erreicht. Auf diese Weise werden auch von der Sonne unbeleuchtete Stellen des Mondes von dem reflektierten Erdlicht schwach bzw. matt beleuchtet und man sieht den Mond in seiner Form trotzdem als Ganzes.
Hier ein Bild.
Dieses auch im Text eingangs erklärte Phänomen überträgt Peart nun auf sich bzw. jeden selbst, also die Art und Weise, wie man auf andere wirkt und was man reflektiert, wenn man von anderen angeschaut wird. Typisch Peart eben, eine erstmal nerdig wirkende Idee, aber an sich einfach nur die Übertragung eines Naturphänomens auf jeden Einzelnen. „Earthshine“ ist der nächste Übergott-Song und ebenfalls ein Kandidat für mein persönliches Highlight auf „Vapor Trails“. Basierend auf einem mächtigen Riff entfachen Rush hier ein Rock-Wunderwerk der Sonderklasse, von den treibenden Strophen über die textlose Bridge (Hier wird nur
“Uuhuuuuhuuuh...“ gesungen, weit in den Hintergrund gemischt) bis hin zum explodierenden, epischen Chorus, in dem dann eben mal nicht die Sonne, sondern der Mond aufgeht. Vermutlich der eingängigste Song des Albums und ein weiterer Zehnpünkter. Insgesamt vielleicht auch der rundeste Song auf diesem Album, komplett unfassbar, wie hier die einzelnen Parts ineinandergreifen und zu etwas werden, das zehnmal größer ist, als die Summe der einzelnen Teile.
Sweet Miracle
„Sweet Miracle“ nimmt das Tempo dann wieder etwas raus und agiert mehr im Midtempo. Der Song ist etwas unscheinbar, gehört aber zu jenen Zweite Reihe-Liedern, die eben nicht die offensichtlichen Hits sind, denen aber auch in nichts nachstehen. Die Strophen führen für mich ein bisschen den „Test for Echo“-Stil fort, haben sogar leichte „Counterparts“-Anleihen, der Chorus hingegen ist „Vapor Trails“ in Reinkultur und könnte mit seiner leicht psychedelisch-orientalischen Melodieführung auf keinem anderen Album der Band stehen. Textlich würde ich „Sweet Miracle“ als weitere Betrachtung des Lebens als solches einordnen. Die Art und Weise, wie man manchmal von einem Ereignis komplett hinweggefegt und unter Wasser gezogen wird, sich dann aber wieder an die Oberfläche kämpft. Ein weiterer, sehr starker Song.
Nocturne
In „Nocturne“ geht es textlich um Träume, die Welten die sich dem Träumenden dort eröffnen und was Träume überhaupt sind.
“Did I have a dream, or did the dream have me?“ fügt Neil gleich ganz am Anfang eine weitere Ebene hinzu. „Nocturne“ ist einer dieser wenigen Rush-Songs, die ich immer vergesse (vgl. „High Water“) und quasi jedes Mal neu entdecke. Ein merkwürdiges Phänomen, da der Song weder besonders sperrig, noch kompliziert ist und auch über einen durchaus einprägsamen Chorus verfügt. Im Gegensatz zu „Peaceable Kingdom“, der ja auch aus den ersten Sessions stammt, wirkt „Nocturne“ auf mich auch nicht unfertig. Es ist ein richtig guter Song, der mir trotzdem aber immer wieder entfällt. Wenn ich Aluhut-Träger wäre, könnte ich jetzt vermuten, dass das kein Zufall ist, denn es geht ja immerhin um Träume und die kann sich ja auch kein Mensch merken. Tolles Lied, wenn auch auch keins der absoluten Highlights - aber allemal nah dran.
Freeze (Part IV of „Fear“)
1981, 1982 und 1984 hatten Rush ja mit „Witch Hunt“, „The Weapon“ und „The Enemy Within“ über drei Alben ihre sog. „Fear-Trilogy“ veröffentlicht. Fast 20 Jahre später fügten sie der Trilogie nun noch einen vierten Teil hinzu. Ging es bei den bisherigen Teilen um Angst als Antrieb eines Mobs („Witch Hunt“), als Waffe gegen den einzelnen und die Gesellschaft („The Weapon“) bzw. um die Mechanismen der Angst in jedem einzelnen („The Enemy Within“) scheint sich „Freeze“ vor allem mit dem Phänomen der Handlungsunfähigkeit, des Stocksteif-vor-Angst-Seins zu befassen, im Text unter anderem anschaulich am Beispiel des wie festgefroren dastehenden Rehs im Scheinwerferlicht verdeutlicht.
Unruhiger, breakdurchsetzter Beginn. Und das setzt sich dann so fort. „Freeze“ ist ein sehr unruhiger, fast wirrer Song, man kommt schlicht nicht zur Ruhe, Bass und Schlagzeug treiben einen unablässig vor sich hier. Bass und Gitarre quietschen und knarzen, für Rush-Verhältnisse wirkt das ganze fast noisig. Der Song ist regelrecht unangenehm beim Hören. Von der Umsetzung des Themas her ist das super, als Lied an sich finde ich „Freeze“ jetzt nicht unbedingt auf der Habenseite dieses Albums. Es macht einen nervös und unruhig, lediglich der Refrain scheint einen ein wenig in Sicherheit zu wiegen und geht fast ein bisschen zurück zu „How It Is“, aber wenn man sich gerade sicher fühlt, fangen sie wieder an, den Hörer vor sich herzupeitschen. Gelungenes Experiment, aber besonders gerne höre ich den Song trotzdem nicht.
Out of the Cradle
Der letzte Song von „Vapor Trails“, nach dem vorausgegangenen Hektik-Overkill wirkt „Out of the Cradle“ regelrecht beruhigend, dabei geht er eigentlich kaum weniger hektisch vor, gerade im Chorus wirkt das Lied sehr unruhig und fast gehetzt. Neben „Nocturne“ ist das der zweite Song, den ich mir nicht wirklich merken kann, und auch hier ist es beim Hören dann jedes Mal unverständlich. Besonders eingängig ist der Song zwar nicht, aber nun auch keine Ausgeburt an Kompliziertheit. Auf mich wirkt das Lied noch ein bisschen unfertig, fast skizzenhaft, so als hätte man da noch mehr herausholen können. Woran das liegt, kann ich allerdings nicht festmachen. Textlich geht es grob gesagt aus meiner Sicht noch einmal ums Weitermachen wollen und müssen, auch wenn das Leben ein Balance-Akt ist, bei dem man Gefahr läuft, jederzeit abzuschmieren. Es endet sehr plötzlich und im Gegensatz zu vielen anderen großen Rush-Albumclosern wirkt „Out of the Cradle“ für mich absolut nicht wie ein letzter Song. Es klingt, als müsse jetzt noch was kommen, als sei man noch nicht fertig. Vielleicht ist das sogar Absicht und soll die Einstellung unterstreichen, dass man nun eben wieder da war und die Band weiterführen wollte. Lässt man das aber außen vor, so fühlt man sich am Ende von „Vapor Trails“ ein bisschen in der Luft hängen gelassen, es ist einfach kein richtiger Abschluss, der die Platte rundmacht. Aber wie gesagt, es ist eventuell sogar genau so gewollt.
Nach 67 Minuten geht „Vapor Trails“ so zu Ende. Gerade das Ende der Platte ist einigermaßen schwierig und steht aus meiner Sicht hinter den insgesamt neun Zehnpunktesongs (die ersten zehn minus „Peaceable Kingdom“ plus dem ebenfalls sackstarken „Nocturne“) zurück. Dennoch ist das Album durchzogen von einer derartigen Energie und einem so überzeugenden Willen, nicht bloß weiterzumachen sondern es obendrein auch noch allen richtig zu zeigen, dass es trotz des objektiv (hahaha!) betrachtet sicher besseren und runderen „Clockwork Angels“ mein Lieblings-Album von Rush seit eben „Presto“ ist und bleibt. Neben dem Durchbruchsalbum „2112“ und dem endgültigen Mainstream-Etablierer „Moving Pictures“ ist es vielleicht ihr wichtigstes Album überhaupt. Ein Neuanfang, oder eigentlich nicht bloß das, sondern eine Wiedergeburt und der Beginn einer neuen Ära, die immerhin noch knapp 15 Jahre andauern sollte.
3 Tips zum Antesten
One Little Victory (Live 2002)

Secret Touch (Live 2002)
Ghost Rider (Live 2002)
