borsti hat geschrieben: ↑31.01.2021 21:10
Versagen meine ich hier eher im Hinblick auf das, was hätte sein können. Das Narrativ, dass die EU nicht wie die anderen Käufer auf Risiko gesetzt hat, kann ich so aber nicht gelten lassen. Die haben letztlich alle Verträge unterschrieben, lange bevor die Wirksamkeit der Stoffe schlussendlich bewiesen war. Also ist auch die EU im Endeffekt das Risiko eingegangen, einen unwirksamen Impfstoff zu kaufen. Soweit ich gelesen hab, ging es bei den Verhandlungen wohl vor allem darum, preislich einen besseren Deal zu bekommen, anstatt zeitlich. Vielleicht hat man das geschafft aber angesichts von hunderten Milliarden, die jede weitere Woche Lockdown verbrennt, konnte man das vielleicht schon damals für einen Pyrrhussieg halten.
Zugegeben: Mit Blick auf das große Ganze ist es fast zu vernachlässigen. Letztlich ist es ja dank begrenzter Produktionskapazitäten ein Nullsummenspiel und jede Impfdose, die wir in der EU bekommen, kriegen Briten und Amerikaner nicht - oder umgekehrt. Vom Rest der Welt mal ganz zu schweigen. In der öffentlichen Wahrnehmung kommt es trotzdem einer Blamage der europäischen Politik gleich.
Ich kann Dir aus 20 Jahren Vertragsberatung und -gestaltung - oft im zweistelligen Millionenbereich und oft genug englisch - sagen, dass solche Verträge einer Ferndiagnose nicht zugänglich sind. Sie umfassen häufig 150, 200, 350 Seiten und dann ist es ein einziges Wort, das die Sache so oder so wendet oder auch nur, wie ein Passage im Kontext platziert ist. Das kommt vor. Oder dass ein Umstand ausserhalb des Vertrags der entscheidende Baustein ist. Manchmal entscheidet eine Anlage, eine email, die ein hierarchisch unbeachteter Mitarbeiter gelesen, geschrieben oder nicht gelesen hat. Oft genug entscheidet ein dreiköpfiges Gericht, das aus Spezialisten besteht und die stimmen dann noch 2:1 ab.
Andererseits kommt es auch vor, sogar häufiger, dass Verträge eindeutig sind. Aber selbst solche kann der Laie nicht lesen und verstehen. Das ist Dunning Kruger in Reinkultur.
Ich weiss nicht, was mit diesen Verträgen ist, in Wahrheit wissen das vielleicht 50 Leute, vielleicht nichtmal die in der wünschenswerten Klarheit. Daran ändert auch alles Geraune und alle Genauwisserei in Zeitungen, Internet und TV nix.
Theoretisch müsste man das alles lesen. Dazu müsste es komplett zugänglich sein und auch das Vertragsumfeld samt Handelnden, Situation usw. spielt eine Rolle. Ich weiss weniger, als mancher Staplerfahrer oder Erdkundelehrer darüber zu wissen sicher ist. Weil ich immerhin weiss, dass das keine seriöse Art ist, mit anspruchsvollen, schwierigen Dingen umzugehen.
Die Wahrheit ist: Wir Laien wissen nicht, warum ein Medikament wirkt, vom Molekül bis auf den gesamten Menschen oder gar Gruppen. Wir wissen nicht, warum es nicht wirkt, und wir werden es nie verstehen. Das gilt sinngemäß für komplexe Technik wie Motoren oder Server samt Software. Es gilt für Klima, es gilt für Volkswirtschaften und es gilt für Kulturen. Selbst hochgradige Fachleute haben oft nur den Anfang eines Fadens eines Netzwerks in der Hand.
Soll man deshalb resignieren und unpolitisch werden? Natürlich nicht. Ein bisschen realistisch und ein bisschen Geduld und Demut stehen jedem gut. Und weniger denen folgen, die in Wahrheit selbst keine Ahnung haben, aber am lautesten, dreistesten und penetrantesten selbstgewiss krakeelen.
In dubio contra googlio.