NegatroN hat geschrieben: ↑16.09.2021 07:58Das ist grundsätzlich schon richtig. Ich hab ja auch gesagt, dass ich Verständnis für dieses Bedürfnis habe. Nichtsdestotrotz sollte man einen Staat und eine Gesellschaft aber nicht um dieses akute Bedürfnis herum organisieren. Das tun wir aus gutem Grund bei keinem Verbrechen. Auch bei einer Vergewaltigung sagen wir nicht, dass das Opfer selber Vergeltung organisieren soll, sondern verweisen auf den Rechtsstaat - wohlwissend, dass der hier auch bei optimalem Funktionieren letztlich unzulänglich bleiben muss.
Und da wäre noch ein Punkt. Ich halte es für einen eklatanten Unterschied, ob man Nazis aus einer konkreten Situation heraus "auf's Maul gibt" oder sie auspioniert, gezielt auflauert und bewaffnet attackiert. Das hat eine völlig andere Qualität. Vermutlich auch für einige derjenigen, die selber Angst vor Nazis haben müssen.
Davon, den Staat darum zu organisieren, spricht ja niemand. Zu einem gewissen Grad - zu dem, der immer noch fragwürdig ist - wird entsprechenden Konstellationen aber ja bereits Respekt gezollt: "Notwehr" existiert ja, und etwa in den USA explizit auch "stand your ground"-Gesetze, wo man Eindringliche seinerseits ebenfalls gewaltsam behandeln darf. Das deutet vielleicht auch an, worum es mir geht bzw. welche Logik ich gegeben sehe.
Den Bedarf, nachdem man auf's Maul gekriegt hat, wenige Monate später eine überraschende Vergeltung zu organisieren meinte ich zudem nicht. Mir ging es tatsächlich konkreter um Szenarien, in denen Präsenz vorhanden ist und der konkrete Akt gegebenenfalls gewaltsam unterbunden oder zeitlich unmittelbar geahndet wird. Sprich, der Nazi, der einen Typen zusammenschlagen will, sieht - Hollywood, klar - auf einmal im Augenwinkel selbst fünf Typen die ihn wissen lassen, dass das gerade nicht klug wäre. Oder würde denen direkt nach der Tat am Heimweg begegnen.
Sprich das, was Konservative oder Superhelden-Fans gerne mal als "Nachbarschaftshilfe" ansehen. Von strukturellen Bandenkriegen, die sich mit stetig erhöhendem Blutzoll und Vergeltungsaktionen hochschaukeln, spreche ich dabei nicht. Inwieweit man Präsenz, die nötig ist, um Naziaktionen zu unterbinden, aufbauen kann, ohne dass entsprechende Auge-um-Auge-Aktionen zwangsläufig verlockend werden, ist aber IMO keine Frage. Das würde fast zwangsläufig folgen. Das heißt aber nicht, dass ich das zuvor geschilderte als absurd und verroht ansehe (slippery slope).
Dass du Vergewaltigung angesprochen hast, finde ich übrigens interessant. Da gibt es ja gerade seit Jahren eine Debatte darum, inwieweit das Rechtssystem Vergewaltigung nicht strukturell deckt, und inwieweit daher nicht soziale Gerechtigkeit auf anderer Ebene - etwa öffentlicher Ächtung - erfolgen müsste. Das ist für mich aber interessanterweise assoziativ eine ganz andere Diskussion, da der Modus der "ersetzenden" Gerechtigkeit auf "Aussage gegen Aussage" und anschließende öffentliche Ächtung rausläuft. Bei dem Szenario "Nazis lauern auf, also lauern wir denen auf" habe ich irgendwie das Bild vor Augen, dass entweder Leute selbst Zeugen sind oder gar Opfer. Der Umstand, dass man sich auf Gerüchte stützt, fällt weg, es wird eher eine Art erweiterter Notwehr daraus.
Sprich dezidiert groß geschriebene SELBST-Justiz. Und ich habe auch das Szenario der zwangsläufig gegebenen Regelmäßigkeit im Kopf, also dass diese Nazis den Leuten regelmäßig auflauern - eine entsprechende Gegenreaktion also konkret weitere Taten unterbinden kann. Ich bin mir gerade null sicher, inwieweit irgendetwas davon eine sinnvolle Unterscheidung ist (Vergewaltiger können auch öfter aktiv werden, organisierte Nazis sind weit mehr als Schulschläger auf Steroiden, es wird nicht immer zufällig haufenweise Zeugen geben die dann aktiv werden), aber es ist wie gesagt interessant, dass das zumindest in meinem Kopf ganz anders gelagert ist, worüber eigentlich gesprochen wird. Denn ich bin mir nicht sicher, ob hier überhaupt alle an das gleiche Denken bei dem Thema (bzw. beiden Themen).
"Wenn man in der Metalszene unterwegs ist, dann bekommt man quasi NIE politische Statements zu hören. Auch deswegen liebe ich diese Szene so. Politik ist dort nunmal kein Thema. Fast schon ein Tabuthema."