borsti hat geschrieben: ↑27.11.2020 21:01
crazy_monkey hat geschrieben: ↑27.11.2020 18:55
borsti hat geschrieben: ↑27.11.2020 17:39
crazy_monkey hat geschrieben: ↑27.11.2020 16:46
Und zuletzt darf man sich - unabhängig von Marx'schen Schriften und ihrer orthodoxen oder heterodoxen Aulsegungen - auch mit Fug und Recht und gerne kontrovers die Frage stellen, ob Realsozialismus jemals Sozialismus war - und nicht vielmehr Staatskapitalismus oder ähnliches.
Wahrscheinlich war es Manuel Neuer.
Der Sozialismus ist aus Sicht seiner Verfechter immer genau so lange Sozialismus, bis er nicht wieder in der Katastrophe endet. Danach soll es dann was ganz anderes gewesen sein. Typisches Fluchtmuster, das keinen mehr überzeugt.
Aber selbst wenn es so ist: Wenn sozialistische Strömungen immer wieder in ruinösen bis hin zu menschenverachtenden staatskapitalistischen Systemen enden, dann sagt das halt auch viel über die grundlegende Idee und ihre Verfechter aus.
Nein. Wenn Sozialismus oder besser: Kommunismus die dialektische Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse ist, wenn Sozialismus bedeutet, dass die Produktionsmittel jenen "gehören", die sie brauchen, wenn Sozialismus bedeutet, eine Balance zwischen Freiheit, Gleichheit/Gerechtigkeit zu finden, wenn Sozialismus weiterhin die Verdinglichung der Beziehungen von Mensch zu Mensch und Mensch zu Natur aufhebt, wenn Sozialismus schließlich in einer Befriedung gesellschaftlicher Antagonismen mündet, dann haben die realsozialistischen oder realkommunistischen Systeme in ihrer autoritären, staatszentrierten Ausformung tatsächlich wenig mit dem zu tun, was man vielleicht als Nukleus eines schillernden und ambigen Begriffs mit inkohärenter Ideengeschichte bezeichnen könnte. Das hat dann auch nichts mit Realitätsflucht gemein, sondern ist eine Sache intellektuell redlicher Argumentation.
Also in der Theorie klang es immer gut, keine Frage. Nur waren die Menschen stets verdammt, wenn sie sich von dieser Verheißung blenden ließen. Unter Honecker wurde fast exakt das gleiche Narativ benutzt, um die glorreiche Zukunft zu schildern, auf die sich die Menschheit dank der Erleuchteten der SED zubewegt. Man durfte nur nie den Fehler machen und sich die Realität dazu anschauen.
Kommunismus und Sozialismus: Das hatte und hat meiner Ansicht nach sehr viel von einer religiösen Heilslehre. Die Verheisung des Paradieses liegt stets in der Zukunft, absolut Perfekt und fast zum greifen nah. Man muss nur noch kurz das entbehrungsvolle Diesseits ertragen. Aber natürlich kam diese Paradies niemals für irgendjemandem und das wird es auch in Zukunft nicht.
Zwar kann ich nicht sehen, inwiefern marxistischen/kommunistischen/sozialistischen Ideen eine masochistische Erleidens- und Erduldungsideologie immanent sein soll, die überhaupt erst den im Jetzt aufgeschobenen Weg in das Paradies weist, wohl aber ist es richtig, dass man bsw. gerade beim frühen Marx einen gewissen teleologischen Messianismus, eine gewisse Vorstellung von Entfremdung immanent ist, die wiederum eine nicht unproblematische Vorstellung von Unvermitteltheit, Ursprünglichkeit oder Natürlichkeit impliziert und die auch später noch bsw. in der Differenz von Gebrauchs- und Tauschwert, im Begriff der entfremdeten Arbeit Ausdruck finden mag. Und es stimmt auch, dass ein genuin materialistische Geschichtsontologie einen gewissen passiven Widerfährnisglauben, den der Einblick in die ehernen Gesetze der Geschichte Vorschub leistet, befördert, zumindest in ihrer vulgärmarxistischen Manifestation. Das kann und soll man kritisieren, wurde auch von linker Seite immer wieder dekonstruiert.
Ich meine aber auch, dass dieser scheinbar aus der Zeit gefallene, nicht-metaphysische Messianismus des Kommunismus/Marxismus eine seiner großen Stärke ist, zumindest wenn man ihn dialektisch begreift und nicht anhand historisch sowieso kontingenter Episteme normativ-konkret entwirft, sondern vielmehr als utopischen Moment begreift, als Vorschein des ganz Anderen, das möglich ist, also jener Moment der Versöhnung, in dem das Allgemeine und das Besondere zu ihrem Recht kommen, als Impetus, der sich am manifesten Unrecht entzündet und über es hinaustreibt.