Deinen Hintergrund verstehe ich. Ich bringe ihn mur nicht mit der aktuellen Situation zusammen.borsti hat geschrieben:Ich verstehe dich ganz genau und bin auch nicht trotzig, wie Infected schreibt. Ich erwarte keineswegs, dass irgendwer freiwillig auf Machtpositionen und Privilegien verzichtet und ein Automatismus greift, der zu einer Demokratisierung und Emanzipierung der EU führt. Aber ich werde auch nicht so tun, als fände ich das akzeptabel. Veränderung einfordern ist ja wohl das mindeste, was man machen kann. Die Chance, dass sich dadurch was ändert, ist vielleicht gering aber wenn man nicht mal das macht, liegt sie komplett bei Null.
Wenn immer mehr Entscheidungsprozesse aus oftmals guten Gründen von der nationalen auf die EU-Ebene geschoben werden, dann muss daran für mich trotzdem Zwangsläufig die Bedingung geknüpft sein, dass die EU den gleichen Grad an demokratischer Teilhabe, an Bürgernähe und an Legitimation erreicht, wie wir sie auf nationaler Ebene haben - oder das zumindest sichtlich anstrebt. Sonst kommt die Europäisierung automatisch einem Verlust an demokratischer Teilhabe gleich. Keinem vollständigen freilich aber einem partiellen. Und ich sehe nicht ein, warum sich irgendwer damit abfinden sollte. Und so lange sich in der Hinsicht nix bewegt, werde ich mich darüber beschweren.
Edit: Und bei Gott, ich will hier kein Loblied auf die Nationalstaaten singen und so tun, als sei da überall alles ok. Aber das ändert nix am Kernproblem.
Nochmal auf einer abstrakten Ebene. Die EU ist ein einmaliges Gebilde mit einem Zwitterstatus, der in sich schon widersprüchlich ist. Sie ist ein Staatenbund, der teilweise wie ein Staat organisiert ist, ohne einer zu sein. Alle seine Organe haben ein Legitimationsproblem, auch das Parlament. Das ist zwar gewählt, aber erstens nach einem fragwürdigen Verfahren und zweitens (und das ist der entscheidende Punkt) weil demokratische Legitimation nicht an Wahlen oder Wahlverfahren hängt. Sie hängt an einer Verfassung. Die gibt es in der EU aber nicht.
Die Regierungschefs sind zumindest als Vertreter ihrer Länder über deren Verfassung demokratisch legitimiert, das Konstrukt des europäischen Rates ist es aber genau so wenig wie das Parlament.
(Man könnte argumentieren, dass die einzigen tatsächlich demokratisch legitimierten Institutionen die Parlamente der 28 Mitgliedsstaaten sind, aber die sind hier völlig außen vor.)
Ganz grundsätzlich ist es also nicht mehr oder weniger demokratisch, wenn das Vorschlagsrecht beim einen oder beim anderen liegt. Das ist auch keine „Hinterzimmerenrscheidung“, sondern ein geregelter Prozess von gewählten Vertretern der Mitgliedsstaaten. Obendrein bleibt es ein Vorschlagsrecht und kein Entscheidungsrecht. Der Rat kann das Parlament hier zu nichts zwingen, natürlich können alle Vorschläge abgelehnt werden. Das ist ein praktisches Problem, weil es zu politischem Stillstand führen kann. Aber es ist kein Legitimationsproblem und kein Demokratieproblem. Ähnliche Vorgänge gibt es übrigens auch immer wieder in etlichen Demokratien ohne dass da der Vorwurf mangelnder Demokratie aufkommen würde.
Insofern ja, ich sehe deine Punkte. Die kann man auch alle haben (auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob die Mehrheit der europäischen Bürger das so teilt). Was ich nicht sehe, ist wie sich das aus der aktuellen Situation ableitet. Da ist aus meiner Sicht nichts anders geworden.
IMO geht es um was anderes. Einerseits darum, dass Politiker etwas „versprochen“ haben, was sie dann nicht halten konnten. Kann man so sehen, teile ich aber nicht. Zum anderen geht es aber vor allem um die Person und nicht um den Prozess. Hätte die Union im Vorfeld vdL nominiert und wäre das mit genau demselben Prozess gescheitert und dafür nun Timmermans der Vorschlag, dann gäbe es nicht nur diese Debatte hier nicht, sondern das würde gefeiert werden. Demokratie hin oder her.
