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Re: Apparition und die wilden Siebziger

Verfasst: 17.09.2020 18:11
von Rotstift
hunziobelix hat geschrieben: 17.09.2020 12:30 KLAATU,eine Megaband.Beim Debut wusste niemand wer dahintersteckt und es wurde tatsächlich vermutet,dass es die BEATLES sind.Das war damals sehr spannend.Nun weiss man ja,dass es eine kanadische Band war.
Jau, daran kann ich mich auch noch erinnern. Das Gerücht konnte man echt überall lesen.

Re: Apparition und die wilden Siebziger

Verfasst: 17.12.2020 19:47
von Apparition
Ja, ich weiss, ich hab was davon erzählt, ich wollte hier keine Megaklassiker besprechen, aaaaber:

Dieses Forum hat einen eklatanten Aerosmith-Mangel. Darum demnächst auf diesem Kanal: Die große Luftschmiede-Retrospektive 1973-1979.

Re: Apparition und die wilden Siebziger

Verfasst: 17.12.2020 22:56
von GoTellSomebody
Stand heute brauche ich nur Pump. Leg los!

Re: Apparition und die wilden Siebziger

Verfasst: 25.12.2020 22:14
von Apparition
Aerosmith ssind im Grunde eine der Bands, die mich am längsten begleiten. Mitte der Neunziger hab ich im lokalen Elektrofachmarkt die beiden bekannten Compilations "Big Ones" und "Greatest Hits" gekauft, und einige Zeit sehr regelmäßig laufen gehabt. Das war auch noch die große MTV-Phase, in der die Videos zu "Cryin'", Crazy", "Amazing", "Jamie's got a Gun", Love in an Elevator" und was nicht alles regelmäßig im Fernsehen liefen. Daneben mochte ich auch die paar Songs aus den Siebzigern, die ich kannte, aber generell war Siebziger-Aerosmith damals weit weg. Dann kam eh Metal, und Aerosmith war erstmal Randthema. Ich bin erst in letzter Zeit wieder auf diese Sachen aufmerksam geworden, im Zuge der Faszination für die Sounds der Siebziger, aber habe es auch lange vor mir hergeschoben, mich da mal tiefer reinzuknien, keine Ahnung, wahrscheinlich war das zu naheliegend. Jetzt mache ich viel Homeoffice, da hab ich viel Gelegenheit, nebenher unbekannte Musik abzuchecken. Zuletzt hab ich eben die Siebziger-Alben von Aerosmith mal intensiver laufen lassen, und deswegen sind die jetzt hier fällig. Vorweggenommenes Fazit: es hat sich gelohnt. Auf gehts!

Re: Apparition und die wilden Siebziger

Verfasst: 25.12.2020 22:38
von Perry Rhodan
"Toys in the Attic", "Rocks" und "Draw the Line" sind super!
"Night in the Ruts" ist gar nicht schlecht.

Re: Apparition und die wilden Siebziger

Verfasst: 25.12.2020 22:48
von Apparition
Aerosmith (1973)

Wenn man das erste Album der Bostoner hört, ohne jede Kenntnis, wer das ist, vielleicht nur mit den bekanntesten Hits im Ohr, wage ich mal zu behaupten, dass 90% dieser unbedarften Menschen nicht erraten, wer da spielt. Nicht dass da jetzt Jazzrock gespielt wird oder so, aber dem Debüt fehlt im Grunde noch jede Identität. Bei jeden späteren Album weiss man nach Sekunden, wer das ist, nicht zuletzt wegen Steven Tylers charakteristischer Stimme. Und selbst die erkennt man hier nicht. Wo Tyler sonst einer der extrovertiertesten und charismatischsten Rocksänger ist, klingt er hier brav, artig, zurückhaltend und blass. Schon mit guter Stimme, wenn auch ungewohnt tief, aber im Grunde austauschbar. Und der Rest der Band schließt sich da einfach an. Im Prinzip ist das bluesiger Rock aus dem Lehrbuch, felerfrei vorgetragen, aber mit arg wenig, was wirklich mitreisst.

Bevor das ein Verriss wird: "Aerosmith" ist ein gutes Album. Hätte sich die Band hinterher aufgelöst, wäre das heute ein Kandidat für irgendwelche "Vergessene Perlen"- oder sonstige Geheimtipp- Listen, die LP wäre möglicherweise rar und teuer. Aber es wäre kein Klassiker. Dennoch gibt es ein paar wirklich starke Songs. Der energische Opener "Make It", dann vor allem "Mama Kin", Steven Tylers Hymne an das Leben, das man sich erträumt, und natürlich "Dream On". Letzeres kennt man heute als einen ihrer Schlüsselsongs, aber bezeichnenderweise brauchte es weitere drei Jahre, bis der Song ein Hit wurde. Er wurde 1976 nämlich ein zweites Mal als Single ausgekoppelt, nach dem die Band ihren Durchbruch hatte. Es ist auch der einzige Song, auf dem Tyler annähernd so singt, wie man es heute von ihm kennt, nämlich etwas höher und rauher als auf den anderen Songs des Albums.

Witzigerweise musste ich beim Hören öfter an das erste Album von Rush denken. Auch ein respektabler Einstand, auch leicht blueslastiger Hardrock, auch nur erste Ansätze des späteren Könnens. Der Sound ist auch nicht so arg anders. Schon lustig, wenn man bedenkt, in welch unterschiedliche Richtungen sich beide Bands schon mit ihren Zweitlingen entwickelten.

Übrigens bestand die Band bereits damals in der Besetzung Steven Tyler (v), Joe Perry (g), Brad Whitford (g), Tom Hamilton (b) und Joey Kramer (d). Bis auf wenige Jahre, von 1979 bis '84, als beide Gitarristen nicht zur Band gehörten, existiert dieses Line-Up bis heute in der gleichen Besetzung.

Tracklist:

1. Make It
2. Somebody
3. Dream On
4. One Way Street
5. Mama Kin
6. Write Me a Letter
7. Movin' Out
8. Walkin' the Dog

Dream On: Mama Kin (in der Liveversion merkt man schon, wo es mal hingeht):

Re: Apparition und die wilden Siebziger

Verfasst: 25.12.2020 23:10
von Perry Rhodan
"Aerosmith (1973)

Wenn man das erste Album der Bostoner hört, ohne jede Kenntnis, wer das ist, vielleicht nur mit den bekanntesten Hits im Ohr, wage ich mal zu behaupten, dass 90% dieser unbedarften Menschen nicht erraten, wer da spielt. Nicht dass da jetzt Jazzrock gespielt wird oder so, aber dem Debüt fehlt im Grunde noch jede Identität. Bei jeden späteren Album weiss man nach Sekunden, wer das ist, nicht zuletzt wegen Steven Tylers charakteristischer Stimme. Und selbst die erkennt man hier nicht. Wo Tyler sonst einer der extrovertiertesten und charismatischsten Rocksänger ist, klingt er hier brav, artig, zurückhaltend und blass. Schon mit guter Stimme, wenn auch ungewohnt tief, aber im Grunde austauschbar. Und der Rest der Band schließt sich da einfach an. Im Prinzip ist das bluesiger Rock aus dem Lehrbuch, felerfrei vorgetragen, aber mit arg wenig, was wirklich mitreisst.

Bevor das ein Verriss wird: "Aerosmith" ist ein gutes Album. Hätte sich die Band hinterher aufgelöst, wäre das heute ein Kandidat für irgendwelche "Vergessene Perlen"- oder sonstige Geheimtipp- Listen, die LP wäre möglicherweise rar und teuer. Aber es wäre kein Klassiker. Dennoch gibt es ein paar wirklich starke Songs. Der energische Opener "Make It", dann vor allem "Mama Kin", Steven Tylers Hymne an das Leben, das man sich erträumt, und natürlich "Dream On". Letzeres kennt man heute als einen ihrer Schlüsselsongs, aber bezeichnenderweise brauchte es weitere drei Jahre, bis der Song ein Hit wurde. Er wurde 1976 nämlich ein zweites Mal als Single ausgekoppelt, nach dem die Band ihren Durchbruch hatte. Es ist auch der einzige Song, auf dem Tyler annähernd so singt, wie man es heute von ihm kennt, nämlich etwas höher und rauher als auf den anderen Songs des Albums.

Witzigerweise musste ich beim Hören öfter an das erste Album von Rush denken. Auch ein respektabler Einstand, auch leicht blueslastiger Hardrock, auch nur erste Ansätze des späteren Könnens. Der Sound ist auch nicht so arg anders. Schon lustig, wenn man bedenkt, in welch unterschiedliche Richtungen sich beide Bands schon mit ihren Zweitlingen entwickelten.

Übrigens bestand die Band bereits damals in der Besetzung Steven Tyler (v), Joe Perry (g), Brad Whitford (g), Tom Hamilton (b) und Joey Kramer (d). Bis auf wenige Jahre, von 1979 bis '84, als beide Gitarristen nicht zur Band gehörten, existiert dieses Line-Up bis heute in der gleichen Besetzung.

Tracklist:

1. Make It
2. Somebody
3. Dream On
4. One Way Street
5. Mama Kin
6. Write Me a Letter
7. Movin' Out
8. Walkin' the Dog"

Schön geschrieben und trifft genau meinen Geschmack und Meinung.
Prima

Re: Apparition und die wilden Siebziger

Verfasst: 26.12.2020 00:02
von Apparition
Get Your Wings (1974)

Was für ein Sprung! Wenn man so Wikipedia-Einträge und Artikel über die Frühphase von Aerosmith liest, kommt auch "Get your Wings" nicht immer gut weg, von wegen, die Band hätte immer noch nicht völlig zu sich selbst gefunden und so. Kann sein, aber zu mindestens 80% waren sie da wo sie hnwollten, behaupte ich mal. Alles ist hier besser als auf den Debüt, vor allem spielt die ganze Band viel, viel lockerer auf, und nicht nur locker, sondern gleichzeitig richtig tight und energisch. Hier lohnt sich ein Song für Song-Review, also rein da:

Same Old Song an' Dance:

Der große Hit des Albums, zumindest wenn man der Auswahl von "Greatest Hits" glaubt. Ist auch einer, aber beileibe nicht der einzige. Wenn man da unbedarft einsteigt, mag man sich erstmal fragen, ob man nicht ein Livealbum hört. Nein, keineswegs, aber da schafft es eine Band tatsächlich, ein wirklich explosives Livefeeling verlustfrei aufs Band zu bringen. Aerosmith haben sich natürlich gerade in der Frühphase den Arsch wundgespielt, und angesichts der "Erfolge" ihrer ersten beiden Alben kann man wohl davon ausgehen, dass die Welt nicht unbedingt auf sie gewartet hat. Die mussten richtig um ihr Publikum kämpfen, und das hört man. Vielleicht lag es daran, dass Aerosmith für eine amerikanische Band sehr "europäisch" klangen, zumindest interpretiere ich das so - Led Zeppelin und die Stones sind stilistisch zumindest keine Welten entfernt, auch wenn die Ähnlichkeit vermutlich eher auf gleichen Einflüssen beruht. An Platzhirschen vorbeizukommen ist immer schwierig. Aber Aerosmith erkämpften sich ihre Nische mit einer Zutat, die die Engländer nicht hatten: Power. Heaviness. Zug nach vorne. Tempo. Das hier ist offensichtlicher Hardrock erklärt warum Aerosmith ein Thema in den Metalmagazinen der Welt sind, die Stones aber nicht. Da ist viel alter Rock'n'Roll, aber auch Soul und etwas Funk, aber mit so einer Wucht nach vorne gebracht, dass die Leute irgendwann wohl nicht mehr anders konnten als die Regale leerzukaufen.

Lord of the Thighs:

Schönes Wortspiel im Titel, satte, aber trockene Bonham-Drums, ein fiebriges Piano, die Gitarren bauen langsam Druck auf, aber es folgt keine Explosion, sondern eine Art angespanntes Brodeln. Die Band groovt wie ein Tiger im Käfig, Die Gitarren legen flirrende Soli über den Rhythmusteppich. Im Mittelteil wird's richtig Sexy, wenn die ganze Band sich in einen, dichten, funkigen Groove reinsteigert. Man will mehr, aber dann ist der Song leider schon wieder vorbei. Völliger Coitus Interruptus. Klingt nicht wie vier, sondern wie zwei Minuten.

Spaced:

Steven Tyler packt hier erstmals das aus, was ich seine "Erzählstimme" nenne. Instrumental passiert gerade am Anfang eigentlich gar nicht viel, die Musik existiert eigentlich nur um Tyler ein Parkett zu legen, auf dem er eine wundervolle Gesangslinie ausbreiten kann. Erst in der zweiten Hälfte darf auch die Band mehr zeigen und ihren Platz neben dem Gesang erobern. Von der Art wie das aufgebaut ist, muss ich an ganz frühe Queen denken. Tyler packt da in kurzer Zeit ganz viele Facetten seiner Stimme rein, und...oh, vorbei. :(

Woman of the World:

Das klingt jetzt am ehesten wie ein vergessener Led Zep-Song, wenn die mehr mit Soul experimentiert hätten. Purer Blues mit richtig Zerre, es macht so irre Spaß, dieser geölten Maschine von Band zuzuhören. Einer dieser Fälle, wo man nicht nur einzelne Musiker hört, sondern so etwas wie einen Musikorganismus, etwas lebendiges, was sich bewegt und biegt und fließt und wo ein Rädchen ins andere greift ohne dass einer dabeisteht und dirigiert. Wanhnsinn, was für ein Fortschritt gegenüber dem schüchternen ersten Album. Man meint eigentlich nicht, dass eine Band mit noch mehr Selbstbewusstsin Songs aufnehmen kann.

S.O.S. (Too Bad):

Meint in dem Fall "Same old shit". Beginnt als schwerer Blues, platzt aber regelrecht auf, um eine kurze, flotte Rocknummer freizugeben. Hier hört man auch mal wieder, wie sie die Stimme im Grunde als zusätzliches Instrument einsetzen. Klingt trotz des Tempos irgendwie bleischwer und tief. Tolles Solo auch.

Train Kept a Rollin':

Der zweite große Hit, ein Cover von Tiny Bradshaw aus dem Jahr 1951, auch von den Yardbirds und Led Zep gerne gespielt. Einer dieser Songs, bei denen man unmöglich sitzenbleiben kann. Dachte die Band wohl auch und hat vorsorglich schon mal Publikumsgeräusche drunter gemischt. *g* In der zweiten Hälfte sehr heavy. Generell fällt bei dem Album ein sehr bassiger, brodelnder Sound auf, der irgendwie direkt von unten in den Bauch geht und drückt und schiebt. Sehr ungewöhnlich für die Zeit, so fett klingt IMO wenig aus den Siebzigern. Ja, ist Studio, könnte man aber ohne weiteres als Liveaufnahme verkaufen. Hammer!

Seasons of Wither:

Steven Tylers großer Moment. Es beginnt mit einem sphärischen Intro, bevor Aerosmith ihre zweite große Ballade ausrollen. Angeblich Joe Perrys liebste, seltsam, dass sie heute so in der zweiten Reihe steht. Die Melodie, die Tyler da singt erinnert mich an etwas anderes, aber ich komme gerade nicht drauf. Tyler war damals anscheinend die treibende Kraft beim Songwriting, zumindest wenn man nach den Credits geht. Krass, was der damals rausgehauen hat. Wie der Song kurz vor dem Ende nochmal Fahrt aufnimmt um dann in einem kurzen Solo zusammenzufallen ist schon super.

Pandora's Box:

Wenn mal einer fragt, wann wohl Sleaze Rock geboren wurde: hier. Tyler macht den brünstigen Elch, der Song kommt aber nicht so ganz aus dem Quark. Auch einer der bekannteren auf diesem Album, ich finde ihn aber am schwächsten. Der abgehackte Groove funktioniert für mich nicht so recht, nachdem alles vorher gerade deswegen bestochen hat, weil es so flüssig war. Passt schon, ich hätte ihn aber nicht gebraucht.

Fazit: Klassiker! Und vielleicht DER Geheimtipp aus der ersten Dekade von Aerosmith. Eigentlich sehr ausgereift, mit ein paar verblüffenden Schlenkern Richtung Queen - mit Freddies Gesang würden einige Songs in einer Queen-Show wohl nicht weiter auffallen. Bei jeder anderen Band würde man sich wohl fragen, wie sie da noch was draufsetzen wollen.

Same Old Song an' Dance: Lord of the Thighs: Spaced:

Re: Apparition und die wilden Siebziger

Verfasst: 26.12.2020 09:11
von Perry Rhodan
"Get Your Wings (1974)

Was für ein Sprung! Wenn man so Wikipedia-Einträge und Artikel über die Frühphase von Aerosmith liest, kommt auch "Get your Wings" nicht immer gut weg, von wegen, die Band hätte immer noch nicht völlig zu sich selbst gefunden und so. Kann sein, aber zu mindestens 80% waren sie da wo sie hnwollten, behaupte ich mal. Alles ist hier besser als auf den Debüt, vor allem spielt die ganze Band viel, viel lockerer auf, und nicht nur locker, sondern gleichzeitig richtig tight und energisch. Hier lohnt sich ein Song für Song-Review, also rein da:

Same Old Song an' Dance:

Der große Hit des Albums, zumindest wenn man der Auswahl von "Greatest Hits" glaubt. Ist auch einer, aber beileibe nicht der einzige. Wenn man da unbedarft einsteigt, mag man sich erstmal fragen, ob man nicht ein Livealbum hört. Nein, keineswegs, aber da schafft es eine Band tatsächlich, ein wirklich explosives Livefeeling verlustfrei aufs Band zu bringen. Aerosmith haben sich natürlich gerade in der Frühphase den Arsch wundgespielt, und angesichts der "Erfolge" ihrer ersten beiden Alben kann man wohl davon ausgehen, dass die Welt nicht unbedingt auf sie gewartet hat. Die mussten richtig um ihr Publikum kämpfen, und das hört man. Vielleicht lag es daran, dass Aerosmith für eine amerikanische Band sehr "europäisch" klangen, zumindest interpretiere ich das so - Led Zeppelin und die Stones sind stilistisch zumindest keine Welten entfernt, auch wenn die Ähnlichkeit vermutlich eher auf gleichen Einflüssen beruht. An Platzhirschen vorbeizukommen ist immer schwierig. Aber Aerosmith erkämpften sich ihre Nische mit einer Zutat, die die Engländer nicht hatten: Power. Heaviness. Zug nach vorne. Tempo. Das hier ist offensichtlicher Hardrock erklärt warum Aerosmith ein Thema in den Metalmagazinen der Welt sind, die Stones aber nicht. Da ist viel alter Rock'n'Roll, aber auch Soul und etwas Funk, aber mit so einer Wucht nach vorne gebracht, dass die Leute irgendwann wohl nicht mehr anders konnten als die Regale leerzukaufen.

Lord of the Thighs:

Schönes Wortspiel im Titel, satte, aber trockene Bonham-Drums, ein fiebriges Piano, die Gitarren bauen langsam Druck auf, aber es folgt keine Explosion, sondern eine Art angespanntes Brodeln. Die Band groovt wie ein Tiger im Käfig, Die Gitarren legen flirrende Soli über den Rhythmusteppich. Im Mittelteil wird's richtig Sexy, wenn die ganze Band sich in einen, dichten, funkigen Groove reinsteigert. Man will mehr, aber dann ist der Song leider schon wieder vorbei. Völliger Coitus Interruptus. Klingt nicht wie vier, sondern wie zwei Minuten.

Spaced:

Steven Tyler packt hier erstmals das aus, was ich seine "Erzählstimme" nenne. Instrumental passiert gerade am Anfang eigentlich gar nicht viel, die Musik existiert eigentlich nur um Tyler ein Parkett zu legen, auf dem er eine wundervolle Gesangslinie ausbreiten kann. Erst in der zweiten Hälfte darf auch die Band mehr zeigen und ihren Platz neben dem Gesang erobern. Von der Art wie das aufgebaut ist, muss ich an ganz frühe Queen denken. Tyler packt da in kurzer Zeit ganz viele Facetten seiner Stimme rein, und...oh, vorbei. :(

Woman of the World:

Das klingt jetzt am ehesten wie ein vergessener Led Zep-Song, wenn die mehr mit Soul experimentiert hätten. Purer Blues mit richtig Zerre, es macht so irre Spaß, dieser geölten Maschine von Band zuzuhören. Einer dieser Fälle, wo man nicht nur einzelne Musiker hört, sondern so etwas wie einen Musikorganismus, etwas lebendiges, was sich bewegt und biegt und fließt und wo ein Rädchen ins andere greift ohne dass einer dabeisteht und dirigiert. Wanhnsinn, was für ein Fortschritt gegenüber dem schüchternen ersten Album. Man meint eigentlich nicht, dass eine Band mit noch mehr Selbstbewusstsin Songs aufnehmen kann.

S.O.S. (Too Bad):

Meint in dem Fall "Same old shit". Beginnt als schwerer Blues, platzt aber regelrecht auf, um eine kurze, flotte Rocknummer freizugeben. Hier hört man auch mal wieder, wie sie die Stimme im Grunde als zusätzliches Instrument einsetzen. Klingt trotz des Tempos irgendwie bleischwer und tief. Tolles Solo auch.

Train Kept a Rollin':

Der zweite große Hit, ein Cover von Tiny Bradshaw aus dem Jahr 1951, auch von den Yardbirds und Led Zep gerne gespielt. Einer dieser Songs, bei denen man unmöglich sitzenbleiben kann. Dachte die Band wohl auch und hat vorsorglich schon mal Publikumsgeräusche drunter gemischt. *g* In der zweiten Hälfte sehr heavy. Generell fällt bei dem Album ein sehr bassiger, brodelnder Sound auf, der irgendwie direkt von unten in den Bauch geht und drückt und schiebt. Sehr ungewöhnlich für die Zeit, so fett klingt IMO wenig aus den Siebzigern. Ja, ist Studio, könnte man aber ohne weiteres als Liveaufnahme verkaufen. Hammer!

Seasons of Wither:

Steven Tylers großer Moment. Es beginnt mit einem sphärischen Intro, bevor Aerosmith ihre zweite große Ballade ausrollen. Angeblich Joe Perrys liebste, seltsam, dass sie heute so in der zweiten Reihe steht. Die Melodie, die Tyler da singt erinnert mich an etwas anderes, aber ich komme gerade nicht drauf. Tyler war damals anscheinend die treibende Kraft beim Songwriting, zumindest wenn man nach den Credits geht. Krass, was der damals rausgehauen hat. Wie der Song kurz vor dem Ende nochmal Fahrt aufnimmt um dann in einem kurzen Solo zusammenzufallen ist schon super.

Pandora's Box:

Wenn mal einer fragt, wann wohl Sleaze Rock geboren wurde: hier. Tyler macht den brünstigen Elch, der Song kommt aber nicht so ganz aus dem Quark. Auch einer der bekannteren auf diesem Album, ich finde ihn aber am schwächsten. Der abgehackte Groove funktioniert für mich nicht so recht, nachdem alles vorher gerade deswegen bestochen hat, weil es so flüssig war. Passt schon, ich hätte ihn aber nicht gebraucht.

Fazit: Klassiker! Und vielleicht DER Geheimtipp aus der ersten Dekade von Aerosmith. Eigentlich sehr ausgereift, mit ein paar verblüffenden Schlenkern Richtung Queen - mit Freddies Gesang würden einige Songs in einer Queen-Show wohl nicht weiter auffallen. Bei jeder anderen Band würde man sich wohl fragen, wie sie da noch was draufsetzen wollen."

Auch hier :pommes:

Re: Apparition und die wilden Siebziger

Verfasst: 26.12.2020 09:50
von Thunderforce
Sehr schöne Reviews, machen Lust, sich den Kram mal anzuhören. :)

Re: Apparition und die wilden Siebziger

Verfasst: 26.12.2020 10:22
von MetalEschi
Was Aerosmith von anderen Bands dieser Zeit abhebt, ist wohl der wirklich massive Einfluss schwarzer Musik, dieser höllische Funk-Groove wird ja später eher noch größer. Get your Wings ist tatsächlich ein Klassiker, erscheint mir aber auch als das unterschätzteste Album der Frühphase. Lord of the Thighs war damals bei GTA IV in den Biker-Missionen drin, und das passt halt auch wirklich zu der Musik: Lässiges Straßencruisen mit dem ständigen Freiheitsgefühl allgegenwärtig.
Das Album versteckt sich tatsächlich keinen Millimeter hinter den noch erfolgreicheren Nachfolgern.

Re: Apparition und die wilden Siebziger

Verfasst: 26.12.2020 12:49
von Thunderforce
Get your wings habe ich mir gerade mal angehört, das ist echt schon richtig gut.
Die ersten drei und letzten beiden fand ich am besten, mit Spaced und Seasons of Wither als Highlights.
Bei Spaced hatte ich ebenfalls eine ziemliche Queenassoziation.


Sehr cool.

Re: Apparition und die wilden Siebziger

Verfasst: 27.12.2020 01:15
von Apparition
Toys in the Attic (1975)

Mit diesem Album sollte die jahrelange Durststrecke von Aerosmith enden. Und ganz ehrlich, wenn sie damit nicht den Durchbruch geschhfft hätten, womit dann?

Toys in the Attic:

BÄMMM! Kein langsamer Beginn, kein Aufbau, einfach direkt mit dem ersten Takt voll in die Fresse. Ganz, ganz leicht fühlt man sich am Led Zeps "Immigrant Song" erinnert, nur dass der im Vergleich klingt wie wenn Omma die Zähne ins Glas fallen lässt. Für sowas haben sich hippe Schreiber vor ein paar Jahren den bescheuerten Begriff "Proto-Metal" einfallen lassen. Im Prinzip harter, schneller Rock'n'Roll ohne Schnörkel, die Akzente kommen mal wieder von der Gesangsmelodie. schneidende Gitarren über Tom Hamiltons ultrafettem Bass, auf so was stehe ich ja total. Das ist ein Sound mit richtig dicken Eiern, kein furztrockenes Geschrammel. Im Grunde nimmt das ein klein wenig schon die dicken Sounds der Achtziger vorweg, klingt aber natürlicher. Oder halt einmal mehr wie eine Liveshow. Unbegreiflich, dass so eine Hymne nicht auf Aerosmith's Greatest Hits war.

Uncle Salty:

Erstmal einen Gang runterschalten. Das ist Bluesrock mit dieser leicht epischen Note, die irgendwie auch ein Markenzeichen von Aerosmith ist, diese Gabe, aus sehr nüchternen Arrangements etwas breitwandiges, großformatiges zu machen. Ende der Achtziger sollte dieses Rezept noch voll ins Schwarze und den Zeitgeist treffen. Der kanonartige Gesang am ende ist groß.

Adam's Apple:

1975 muss genau dieser Ansatz, Blues, Swing und Country zu Hymnen zu formen, etwas völlig neuartiges gewesen sein. Man stellt sich Steven Tyler vor, wie er über die Bühne fegt und gleichzeitig eine Big Band dirigiert. Bläser gibt's auch, und ansatzlos kurze zweistimmige Leads hinterher, die damals auch nicht viele drauf hatten. Wie sich Perry und Whitford da an den Gitarren duellieren, kennt man echt von keiner anderen Band aus der Epoche. Ja, Wishbone Ash sind mir ein Begriff, aber da schlafen einem ja im Vergleich die Füße ein. So locker und selbstverständlich, ein Wahnsinn. eigentlich sind ja Queen die Meinster dieser ausgefeilten Arrangemente, wo sich eine Schicht über die andere Türmt und es am Ende doch wie aus einem Guss klingt, aber zmindest 1975 varen Aerosmith da besser, da lege ich mich jetzt fest.

Walk This Way:

Na, wer dachte noch, dass der Song von 1984 ist? Neune Jahre nach Erstveröffentlichung war der Song immer noch gut genug, um Aerosmith nach längerer Durststrecke zurück ins Rampenlicht zu bringen - natürlich in der Kollaboration mit Run DMC. Passt wie Arsch auf Eimer, auch in der Originalversion. Tylers rasanter Sprechgesang ist für diesen Crossover wie gemacht, und der Beat unten drunter genauso. Natürlich ist das eigentlich Funk, und als Menschen mit Geschmack freuen wir uns natürlich über sowas. :D

Big Ten Inch Record:

Jetzt ein Ausflug in den Rockabilly? Hoffe, die Zuordnung ist korrekt, mit dem Honky Tonk-Piano und Mundharmonika geht's direkt zurück in die Fünfziger. Selbst der Gesang ist leicht am Elvis angeleht. Macht Laune, ist aber nicht mein Favorit.

Sweet Emotion:

Der andere große Hit, war damals die erste Single, glaube ich. Klingt am Anfang fast orientalisch und darum leicht an Led Zeppelin angelehnt, auch die Riffs sind nicht weit weg von Page. Total faszinierend finde ich den durchgehenden Beat von Joey Kramer, auf dem die Band die Intensität variiert. In den Strophen eine coole Tanznummer, die wie ein Rinnsal dahinfließt, um dann in einer Art instrumentalem Chorus massiv anzuziehen. Schweineheavy für die Zeit, ohne aber für einen Moment den tanzbaren Beat zu verlieren. Auf sowas steh ich total, würde ich gern mal zu tanzen.

No More No More:

Kennt kein Mensch mehr, ist aber IMO auf einem Level mit Sweet Emotion. Nicht so brutal tanzbar, sondern eher ein straighter Beat, sowas könnte auch von leichtfüßgeren AC/DC kommen, Aber dann kommen diese ganz kurzen, sanften, langsamen Einschübe, mit dem "Baby, I'm a Dreamer...", um dann nach Sekunden sofort wieder anzuziehen. Ganz feine Tempokontrolle, da ist nichts abgehackt oder gestückelt, die lassen das einfach fließen. Da hört man leicht drüber weg, aber das ist schon die ganz hohe Schule. Einer meiner Lieblingssongs.

Round and Round:

Doom! Naja nicht ganz, aber als Cover von Trouble oder so könnte ich mir das super vorstellen. Langsam, bedrohlich, bleischwer, ein Song wie durch Honig gezogen, rollend, schwül und sumpfig. Kaum Tempovariation, der saugt einen einfach ein wie Treibsand. Ganz andere Facette, fast schon Sabbath-Territorium, aber irgendwie sexier, mehr Louisiana als Birmingham. Ein Song wie ein Voodooritual. Geil.

You See Me Crying:

Ohne Ballade geht's natürlich nicht. Und die ist jetzt endgültig der Vorgänger von - genau: - "Cryin'" und "Crazy". Getragen von Klavier und Streichern, und Tyler leidet wie ein Hund. Die Übung hat sich noch hundertfach ausgezahlt, und ganz ehrlich, ich finde den hier besser als die großen Schmachtfetzen aus den Neunzigern. Auch dafür waren in den Siebzigern eher Queen zuständig, aber die waren da noch nicht ganz so weit. Warum ist das kein Megahit geworden?

Fazit: Wahnsinnsalbum, ohne "Big Ten Inch Record", das ich nur ganz ok finde, wäre das eine glatte 10. Aber es kommt ja noch was, vielleicht ist die letzte Steigerung ja noch drin. Wer Led Zep bis dahin als Muster an Leichtfüßgkeit gesehen hat, sollte sich das mal anhören. Die waren 1975 bekanntlich schon auf dem Absteigenden Ast, und wurden spätestens hiermit rechts überholt.

Toys (schön abgefuckt, mit ziemlich verstrahltem Tyler): No More No More: Sweet Emotion:

Re: Apparition und die wilden Siebziger

Verfasst: 27.12.2020 08:47
von Perry Rhodan
"Toys in the Attic (1975)"

Auch hier - volle Zustimmung, schön geschrieben.

Re: Apparition und die wilden Siebziger

Verfasst: 27.12.2020 10:10
von MetalEschi
Neben dem Nachfolger wohl das Vorzeigealbum des amerikanischen 70er Rock, das sich ja auch wie blöde verkauft hat, und das zurecht. Selten klang eine Band so selbstbewusst, so unzähmbar und voll und ganz überzeugt von sich selbst. Alles Andere steht ja schon da.