The Wild, the Innocent & the E Street Shuffle (1973)
A-Seite
1. The E Street Shuffle
2. 4th of July, Asbury Park (Sandy)
3. Kitty’s Back
4. Wild Billy’s Circus Story
B-Seite
1. Incident on 57th Street
2. Rosalita (Come Out Tonight)
3. New York City Serenade
Das Debutalbum war also gemacht, und alles war aufregend: Songs wurden im Radio gespielt, man tourte mit einem echten Album im Gepäck und eine Menge wildfremde Leute wollten seine Musik kaufen. „Eine Menge“ ist dabei aber nur aus Bruces junger subjektiver Perspektive richtig. Aus kommerzieller Sicht war „Greetings…“ ein Flop, und man war schon innerhalb eines halben Jahres vertraglich schon wieder verpflichtet, einen Nachfolger nachzuschieben.
Das Debut war ein unbekümmertes Zeitdokument eines jungen Musikers, der es geschafft hat, seine Musik auf Band bringen zu dürfen und das auch mit wildem Enthusiasmus und intuitiver Poesie durchgezogen hat. Die Bühne war bereitet, und der nächste Schritt musste folgen.
Während der Promo-Tour für „Greetings…“ hat Bruce und seine Band mehr und mehr Gefallen an einer dichteren Instrumentierung gefunden, so dass auch viele der noch in Rumpfbesetzung eingespielten Songs des Debuts live mit kompletter Bandgewalt interpretiert wurden. „Band“ heißt zu diesem Zeitpunkt Clemons, Lopez, Tallent und Federici (David Sancious, auch wenn er bei den Aufnahmen des Debuts dabei war, war kein Teil der Band, und auch Steve Van Zandt war noch nicht dabei). Diese Live-Energie beeinflusste merklich sein Songwriting für den Nachfolger, und so verschob sich der Stil deutlich weg von den Folkeinflüssen des Erstlings hin zu progressiveren, längeren Songs mit vielen R&B- und Jazz-Elementen.
Die Aufnahmen zu dem Album zogen sich über drei Monate hin und verliefen – so ein bisschen wie bei „Greetings…“ – in zwei Phasen: Ein Teil mit der oben beschriebenen Band und danach noch ein Teil mit David Sancious am Keyboard, der im Sommer 1973 endlich in die Band einstieg, sowie ein paar Gastbeiträgen für Congas, Percussion, Vocals und Bariton-Saxophon. Der Großteil des Albums wurde mit der Urband aufgenommen, die später dazu gestoßenen Musiker spielten dann meist noch die Overdubs ein.
Nach der Fertigstellung der Aufnahmen gab es dann ein kleines Problem: Bruces beiden Fürsprecher bei Columbia John Hammond und Clive Davis waren nicht mehr da, und der neue Mann Charles Koppelmann war von der ganzen Sache nicht allzu sehr begeistert. Er hielt das Material für musikalisch nicht ausreichend (er schlug sogar vor, es mit „echten Musikern“ nochmal einzuspielen) und meinte, wenn das Album so veröffentlicht würde, würde es kaum Promotion bekommen, und niemand würde es kaufen. Bruce, stolz auf sein Werk, bestand auf die Veröffentlich in der vorliegenden Form, und naja… das Album hat sich tatsächlich quasi nicht verkauft, v.a. weil kaum jemand davon wusste. Die Plattenfirma sorgte sogar dafür, dass die Songs im Radio – weil zu lang – nicht gespielt wurden, woraufhin es irgendwann zum Zerwürfnis zwischen Manager Mike Appel und den Verantwortlichen bei Columbia kam (Mike hat ihnen dann zu Weihnachten Strumpfhosen mit Kohlestücken geschickt…).
Gegen Ende der Tour kam es dann zur Trennung mit Drummer Vini Lopez, der zum einen musikalisch nicht mehr wirklich mithalten konnte, und mit dem es zum anderen aufgrund seiner häufigen Eskapaden nicht immer ganz einfach war. Irgendwann kam es dann zu einem ernsthaften Streit mit Clarence, und auf das Ultimatum „er oder ich“ konnte Bruce dann nur noch mit einer Entscheidung antworten. Kurzfristig sprang daraufhin Daveys Jugendfreund Ernest „Boom“ Carter ein, der von nun an, wenn auch nur für eine kurze Zeit, Drummer der der E Street Band war.
Wie gesagt, Geld kam nicht rein, mit der Plattenfirma war man zerstritten, so dass man nach diesem Album quasi am Scheideweg stand. Es sah trostlos aus, bis schließlich 1974 im „The Real Paper“ ein Artikel von einem Kerl namens Jon Landau erschien, in dem er über einen Auftritt schrieb, den er vor kurzem gesehen hatte: “I saw rock and roll's future and its name is Bruce Springsteen. And on a night when I needed to feel young, he made me feel like I was hearing music for the very first time“ (
hier ist der gesamte, toll geschriebene Artikel – ab etwas mehr als der Hälfte geht es um Springsteen). Mit diesem Review begann nicht nur die lange und enge Beziehung zwischen Landau und Springsteen, es war auch Ursache dafür, dass andere Magazine so langsam aufmerksam auf ihn wurden und letztlich auch die Plattenfirma wieder an Bord war. Und dann stand auch schon das nächste Album an…
Die Songs von The Wild, the Innocent & the E Street Shuffle:
The E Street Shuffle [
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Das Album beginnt mit diesem Quasi-Titelsong, der sofort zeigt, wo es auf der Platte hingeht. Blues, R&B, Soul, Jazz mit dichter Instrumentierung. treibenden Grooves und irren Rhythmen. Mit den späteren Sachen von Springsteen hat das natürlich nichts zu tun, aber es war ein ganz gutes Zeitdokument über den Livesound der Band. Springsteen meinte, er wollte hier einen Tanz ohne genaue Schritte erfinden, und tatsächlich basiert die Nummer auf einem Dance-Song aus den 60ern (The Monkey Time von Major Lance). Alles in allen recht ungewöhnlich – gerade als Opener – aber wenn man sich mit dem Stil mal angefreundet hat, mach die Nummer hier eine Menge Spaß. 8/10
4th of July, Asbury Park (Sandy) [
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Springsteen selbst nennt diesen Song “a good-bye to my adopted hometown and the life I’d lived there before I recorded”. Und die Person Sandy wäre eine Mischung aus verschiedenen Mädels, die er entlang der Küste gekannt hatte. Ich bin dem Song gegenüber schon immer etwas zwiespältig gewesen – einerseits finde ich vor allem den Refrain schon arg schmalzig, aber andererseits ist der Song als solches derart umwerfend gespielt: Die gefühlvolle Gitarre, das schwebende Akkordeon und die ruhige Stimme, die häufig klingt, als würde er seiner Freundin den Text ins Ohr flüstern. Textlich eine romantisierte Hommage an Asbury Park und die Menschen dort, die in dieser Art nur wenige Künstler schreiben können. Sicherlich der eingängigste Song der Scheibe und auch einer der populärsten. 8,5/10
Kitty’s Back [
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Der Song nimmt das, was mit dem Opener angedeutet wurde und hebt es auf eine andere Ebene. Er fängt ruhig und bluesig an und steigert sich dann in eine Jazzorgie, in der sich Bläser, Orgel, Gitarren gegenseitig an die Wand spielen, um dann gegen Ende wieder ruhiger auszuklingen. Wie auch schon „The E Street Shuffle“ völlig ungewöhnlich im Bruce-Universum, aber auf dieser Platte absolut stimmig und in sich einfach ziemlich genial. 8,5/10
Wild Billy’s Circus Story [
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Der einzige Song der Scheibe, der mich wieder ein wenig an Dylan erinnert. Zu Großteilen getragen von einer einsamen Akustikgitarre, teilweise unterstützt durch Tuba und Akkordeon, ist der Song zwar interessant, für mich fällt er im Albumverglich schon ein wenig ab. Inhaltlich laut Bruce einerseits eine „black comedy“ basierend auf seinen Kindheitserinnerungen, aber andererseits auch „a song about the seduction and loneliness of a life outside the margins“. Live wurde die Nummer quasi ausschließlich komplett akustisch gespielt. 7,5/10
Incident on 57th Street [
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Die B-Seite beginnt gleich mit dem Höhepunkt der Scheibe. Ein romantisches Drama um Spanish Johnny und Jane, der laut Springsteen vorrangig „the search for redemption“ als Thema hat. Anders als bei einigen Songs der wilden A-Seite nimmt sich diese Nummer instrumental deutlich zurück und lässt der Stimme und der Stimmung genug Raum zum Wirken. Völlig genialer Song und eine der großen Nummern seiner frühen Jahre. Er klingt darüber hinaus wie eine Blaupause von „Jungleland“ und deutet damit schon an, was da in ein paar Jahre kommen sollte. 9,5/10
Rosalita (Come Out Tonight) [
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Möglicherweise der bekannteste Song des Albums, der sich auch am längsten und beharrlich in den Live-Sets gehalten hat, wo er lange als Abschlussnummer gespielt wurde. Springsteen bezeichnet den Song als seine „musical autobiography“, und er entspricht inhaltlich auch so ziemlich komplett der Wahrheit: Bruce hatte wirklich mal eine Freundin, deren Eltern sie vor ihm weggesperrt haben, weil er wohl keine besondern guten Eindruck gemacht hat. Das alles endet mit der Textzeile „someday we’ll look back on this and it will all seem funny“, die Bruce als „one of the most useful lines I’ve ever written“ bezeichnet hat. Musikalisch eine wilde Fahrt, in der sämtliche Register gezogen worden, und die genau mit dem Hintergrund geschrieben wurde, die Menge live zum Wahnsinn zu treiben und einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Ich würde mal sagen „mission accomplished“. 9/10
New York City Serenade [
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Mit diesem Song über Springsteens “romantic ideas and fantasies of New York City” endet das Album – ein beinahe 10-Minuten-Song und damit der längste Song, der je auf einem seiner Studioalben veröffentlicht wurde. Eingeleitet und getragen von Sancious‘ Piano und später unterstützt durch verschiedene gezielt und stimmungsvoll eingesetzte Instrumente (wie Konga und Violinen) ist die Nummer quasi eine akustische Diashow durch die Straßen von New York, in der man sich teilweise völlig verliert und quasi wie in Trance durch diese legendäre Stadt schwebt. Wieder einmal völlig ungewöhnlich für Springsteen und wahrlich kein Easy Listening, aber trotzdem oder gerade deshalb eine großartige Nummer, die er so wahrscheinlich nur in genau dieser Bandphase schreiben konnte. 9/10
FAZIT:
“The Wild…” ist so ein bisschen das “Höher-schneller-weiter”-Album von Springsteen und eine Achterbahnfahrt bestehend aus Romanzen, melancholischen Bildern und wildem Big Band-Sound mit unüberhörbaren Elementen von Jazz, Soul und R&B. Ich kann jeden verstehen, der mit Teilen des Albums nicht klarkommt, aber für mich ist es zum einen die Scheibe, die die Band mit ihrer damaligen ungezügelten Live-Energie zeigt, und vor allem ist es die erste Scheibe überhaupt mit einer echten Band. Springsteen sagte später selbst „Hyperactivity was our business“, und das kommt bei diesem Album voll heraus – hier geht musikalisch mehr ab, als vielleicht auf dem Vorgänger und dem Nachfolger zusammen. Das ist auch genau das Charakteristikum, was er für „Born to Run“ später bewusst zurückgeschraubt hat (weniger exzessive Instrumentierung zugusten von griffigeren Songs), was Sinn macht, aber natürlich auch als bewusst-kontrollierte Maßnahme auch etwas schade ist. Hier ist noch alles drin: unfiltriert und vielleicht auch noch ein wenig naturtrüb, aber mit allen enthaltenen Eindrücken – wenn man nur schafft, sie alle wahrzunehmen. Was aus dieser Zeit dazu noch so irre ist, ist dass die bekannten Outtakes (unten genauer beschrieben) ebenfalls ein Album abgeben würden, das neben dem hier durchaus bestehen könnte. 9/10
Outtakes:
The Fever [
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Tolle, bluesige Nummer, die angeblich schon 1971 geschrieben wurde und auch bereits häufiger live gespielt wurde. Der Song war lustigerweise in den 70ern schon ein kleiner Underground-Hit, weil ihn Mike Appel zu Promozwecken an einigen Radiosendern hat spielen lassen. Offiziell veröffentlich nur auf "18 Tracks" (nicht auf der 4-CD-Box "Tracks"). 9/10
Thundercrack [
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Der wohl populärste Song aus allen frühen Outtakes. Diese wilde Nummer war in der Anfangszeit immer der Rausschmeißer bei Live-Auftritten (bis er von Rosalita abgelöst wurde). „It was meant to make you nuts“, sagte Springsteen über den Song, „just when you thought the music was over, you’d be surprised by another section, taking the music higher“. Große Nummer, wenn auch aus völlig anderen Gründen als „The Fever“. Für die Produktion des Songs für „Tracks“ hat Bruce für Background-Vocal-Overdubs sogar Vini Lopez ins Studio geholt. 9/10
Santa Ana [
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Diese leicht Dylanesque Halbballade wurde in vermutlich zu der Zeit geschrieben, als “Greetings…” gerade fertig produziert war, und tatsächlich klingt die Nummer von allen Songs hier auch am ehesten noch nach dem Debut. Ebenfalls ein hervorragender Song mit toller Gesangslinie und großen Gefühlen. 8,5/10
Seaside Bar Song [
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Der Seaside Bar Song klingt genauso, wie es der Name suggeriert und ist damit ein kleiner Exot unter den Songs dieser Recording Session. Von der Art her könnte er mit seinem Hauptthema, einem treibenden Keyboard-Lead, so oder so ähnlich auch auf „The River“ oder „Born in the USA“ stehen, was ihn vielleiht sogar – neben dem Jungleland-Vorboten „Incident…“ – zu dem visionärsten Song von allen hier macht. Genau genommen werden hier die frühen exzessiven Textpassagen mit einer dichten Instrumentalbegleitung kombiniert mit diesem späteren Bar-Song-Stil aus Nummern wie „Ramrod“ verbunden, was zwar nicht 100%ig funktioniert, aber extrem interessant klingt. 8/10
Zero and Blind Terry [
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Der vielleicht vertrackteste Song der Outtakes ist ein progressives Epos mit großartiger Instrumentierung und tollen Backgroundgesängen. Die Melodie (mit anderen Texten) deckt sich vollständig mit einem früheren Song – „Phantoms“ – von dem ein paar Aufnahmen kursieren. Schöne progressive Nummer, die vielleicht manchmal etwas ziellos wirkt, aber sich (vielleicht auch deshalb) auf dem Album nicht hätte verstecken müssen. Wie alles bisherigen Outtakes erschien auch hiervon eine Studioversion auf „Tracks“. 8/10
Evacuation of the West [
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Dieser Song – ursprünglich „There are no Kings in Texas“ betitelt – wurde auch für “Tracks” in Erwägung gezogen, hat es letztlich nicht aufs Album geschafft. Allerdings kursiert diese Aufnahme hier online, weshalb ich sie mit in diese Outtakes-Sektion aufgenommen habe. Da hier noch kein David Sancious zu hören ist, stammt die Nummer vermutlich aus den frühen Aufnahmesessions des Albums. Alles in allem eine tolle Pianoballade, die vielleicht nicht immer ganz zwingend ist, aber sich trotzdem vor nichts hier verstecken muss. 8/10
Weitere Outtakes (bislang unveröffentlicht):
- Phantoms (eine frühe Version von “Zero and Blind Terry”; es kursieren Aufnahmen)
- Fire on the Wing (nicht veröffentlicht)
- New York Song (eine frühe Version von “New York Serenade”, nicht veröffentlicht)
- Secret to the Blues (nicht veröffentlicht)
- Angel's Blues (nicht veröffentlicht)